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© Claudia Dewald / ERF

21.04.2021 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Simone Merz

Vom Sterben für’s Leben lernen (2/3)

Franziska Decker besuchte ihre todkranke Freundin im Hospiz.

Etwas nervös drückt sie die Klinke und öffnet die Tür. Wie soll sie ihrer Freundin begegnen, die im Sterben liegt? Viele unterschiedliche Gefühle und Gedankenfetzen wirbeln durch ihr Herz. Dann nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und stellt sich der Begegnung. Franziska Decker koordiniert die ERF Online-Kurse und begleitet Menschen bei ihren Glaubens- und Lebensfragen. Sie erzählte uns wie es war, als sie 2020 ihre Freundin an Krebs verlor und welchen Schatz sie daraus gewonnen hat. 
 

ERF: Franziska, deine Freundin verbrachte ihre letzten Wochen im Hospiz. Warum war es dir so wichtig, sie noch einmal zu sehen?

Franziska Decker: Ich hatte vor dem Besuch im Hospiz Angst. Aber ich wollte sie noch einmal sehen und persönlich mit ihr sprechen. Ich habe zwar immer noch dran geglaubt, dass Gott ein Wunder tun könnte, aber ich habe auch der Realität ins Auge gesehen. Menschlich gab es einfach keine Möglichkeit mehr. Deshalb wollte ich gerne für mich einen Abschluss finden.


ERF: Du hast dann allen Mut zusammengenommen und bist zum Hospiz gefahren, um deine Freundin zu besuchen. Wie hast du die Situation dort wahrgenommen?

Franziska Decker: Die ganze Atmosphäre dort war sehr eindrücklich für mich. Das Gebäude liegt so schön im Grünen, es ist ganz ruhig. Allein der Weg dorthin ist schon ein Weg raus aus dem bewegten, lauten Leben in die leiseren Töne hinein. Dieser Weg dorthin hat schon ganz viel mit mir gemacht. Ich ging ins Gebäude hinein und in ihr Zimmer. Sie lag im Bett und begrüßte mich flapsig, sie würde mich ja trotz Maske noch erkennen. Wir brauchten beide einen Moment, um ein Gespür dafür zu bekommen, wie wir jetzt miteinander umgehen können. Aber dann war schnell wieder eine tragfähige Verbindung zwischen uns. Wir haben uns über alles Mögliche unterhalten, darüber wie es ihr geht, aber auch darüber, was mich gerade beschäftigt.
 

ERF: Wie war der Moment für dich, als du ins Krankenzimmer gekommen bist?

Franziska Decker: Die Terrassentür stand offen, es war schön sonnig, ich hörte das Vogelgezwitscher. Das waren solche Gegensätze! Da scheint die Sonne, es ist grün, und hier ist ein schlichtes Zimmer, in dem jemand versucht, weiterzuleben, trotz sämtlicher, zunehmender Einschränkungen. Und trotzdem ist es Leben. Das berührte mich sehr. Meine Freundin hatte mir außerdem im Vorfeld geschrieben, ich solle ihr nichts mitbringen, es würden genug Sachen herumstehen. Als ich mich umschaute, war da aber nicht viel.

Es hing ein Bild an der Wand, auch nahm ich eine Uhr wahr, es standen ein paar süße Flipflops an der Seite und ein, zwei Pinnwände, an denen Kartengrüße hingen. Ich dachte: „Irgendwann beschränkst du dich wirklich nur noch auf das Aller-, Allernötigste. Das empfindet man dann wohl schon als „genug“, so dass ich mich im Nachhinein gefragt habe: 

Woran hänge ich? Was brauche ich wirklich und womit will ich mein Leben füllen? Woran mache ich Leben überhaupt fest?

ERF: Welche Gedanken haben dich besonders berührt im Kontakt mit deiner krebskranken Freundin?

Franziska Decker: Es war im Frühling, als sie mir eine Sprachnachricht geschickt hat. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt nichts essen, wurde künstlich ernährt und bewässert, wie sie es genannt hat. Es waren sonnige Wochen. Sie sagte in ihr Handy, sie hätte gerade das Fenster offen, und hätte so ein paar Gnadenminuten, weil ein neues Schmerzmittel gewirkt habe. Sie nähme gerade das Vogelgezwitscher von draußen wahr, die Natur. Dass sie das so intensiv wahrnahm und dabei an mich gedacht hatte, berührte mich sehr. Sie sagte weiter, sie sei traurig, wenn sie daran denke, dass das alles vielleicht schon bald vorbei sein soll. Deshalb könne sie nur jedem wünschen: 

Genieße! Genieße! Genieße!

ERF: Was haben diese Worte in dir ausgelöst?

Franziska Decker: Es hat mich beeindruckt, dass jemand, der das Schöne gerade nicht hat und vielleicht auch nie mehr haben wird, es einem anderen gönnt und ihn sogar noch dazu ermutigt, es zu genießen. Während des Besuchs im Hospiz war mein letztes Bild von meiner Freundin, dass sie am Essen war. Spaghetti Carbonara. Es schien mir, als konzentriere sie sich mit ihrer ganzen Kraft auf diesen Moment, auf das Essen, um es im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu genießen.

Zwischendrin hat sie immer wieder an meinem Leben Anteil genommen. Sie sagte: „Ich will nicht, dass die Krankheit alles bestimmt.“. Sie hat sich in allem Schweren auch immer bewusst dem Leben zugewandt. Das hat mich beeindruckt. Sie hätte allen Grund gehabt, in der Krankheit zu versinken, aber, wann immer es ihr möglich war, ist sie bewusst herausgetreten und hat sich für mich interessiert und dafür, wie es mir geht. 
 

ERF: Wie hast du die Zeit am Krankenbett deiner Freundin erlebt?

Franziska Decker: Ich habe immer mal auf die Uhr geschaut und wusste, dass meine Besuchszeit begrenzt ist. Ich meinte, die Uhr ticken zu hören. Sekunde für Sekunde. Mir wurde bewusst, es geht darum, jetzt die Intensität eines jeden Moments zu erleben und nicht nur zu schauen, wieviel Zeit noch  bleibt, sondern: Jetzt sitze ich noch hier und jetzt nehme ich alles in mich auf, egal, was da noch kommt.

Irgendwann war es dann aber soweit und ich sagte: „Die Zeit läuft und ich habe gerade total Mühe mit dem Gedanken, dass wir uns vielleicht nie wiedersehen.“. Dann habe ich angefangen, zu weinen. Wir haben uns an die Hand genommen, noch ein wenig gesprochen, ich habe für sie gebetet, und dann kam das Essen. Beim Abschied sagte sie mir noch etwas für mich sehr Wertvolles. Dann bin ich gegangen.

ERF: Ein paar Wochen später verstarb deine Freundin. Welche Auswirkungen hatte das alles auf deine Beziehung zu Gott?

Franziska Decker: Mich hat manches im Glauben sprachlos gemacht. Ich habe mich sehr daran gerieben, zu sehen, wie meine Freundin litt und gleichzeitig zu wissen, Gott könnte es ändern, aber er tut es nicht! Was heißt es zum Beispiel, wenn in Psalm 91 steht: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“

Ich hatte die Vorstellung, wenn ein Fuß an einen Stein stößt, dann tut das weh und hindert am Weitergehen. Das will Gott verhindern. Was heißt das aber jetzt in dieser Situation? Es gibt keine leichte Antwort auf das Thema Leid. Ich habe für mich eine Grundsatzentscheidung getroffen: „Dennoch bleibe ich stets an dir.“ Ich weiß nicht, wie es in einem halben Jahr aussieht, aber für den Moment vertraue ich tief in mir, dass Gott einen guten Weg hat, und dass ich mit meinem begrenzten, menschlichen Denken und meiner Sicht auf die Dinge nicht in der Lage bin, das Göttliche zu erfassen.

Es ist immer wieder neu eine Vertrauensfrage, jenseits dessen, was ich verstehe. Glaube will immer wieder neu erlebt und gelebt werden, immer wieder hinterfragt werden. Glaube ist dynamisch. Das ist nicht wie mit einer Kiste, die ich mit mir herumtragen kann und wenn es mal wieder schwierig wird, mache ich die Kiste auf und habe die Glaubens-Lösung. Nein. 

Glauben ist innerliche Bewegung und kein Verfügbarsein von Gott. Gott ist unverfügbar geheimnisvoll, nicht menschlich zu fassen.

ERF: Liebe Franziska, vielen Dank für deinen ganz persönlichen Einblick. Wie schön, dass du den Mut hattest, deine Freundin kurz, bevor sie gestorben ist, noch zu besuchen. 

Franziska Decker: Ja, ich bin so dankbar, dass ich es gemacht habe. Es gibt ein zu spät, und ich glaube, wir knabbern eher an den Sachen, die wir nicht gemacht haben als an denen, die wir gemacht haben.  


ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 Simone Merz

Simone Merz

  |  Moderatorin

Simone ist Mama und Moderatorin. Sie ist in einem badischen Dorf aufgewachsen, doch seit ihr ihr hessischer Traumprinz über den Weg gelaufen ist, befindet sich in ihrem Haushalt nicht nur der Spätzlehobel, sondern auch ein Bembel. Als Redakteurin und Moderatorin kann sie genau das machen, was sie schon immer machen wollte: Menschen für den Glauben begeistern.

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