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04.09.2015 / Porträt / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Sophia Sczesny

Hoffnung für Hannover

Christian Reinhardt tritt in die Pedale und sammelt 30.000 € für Drogenabhängige

 

„Du ärgerst dich ja gar nicht!“ Christian Reinhardt lacht laut los und schiebt den Würfel an Dietmar weiter. „Det kommt ja noch, det kommt ja noch…“, antwortet Jürgen gelassen in seinem Berliner Dialekt und stellt seine Spielfigur wieder zurück ins Häusschen des Mensch-ärgere-dich-nicht!-Spielfelds. Am Nebentisch wird gerade das Tagesgericht, Sauerbraten mit Kloß und Blaukraut, serviert.

An diesem trüben Donnerstagnachmittag Ende Mai herrscht eine gemütliche Atmosphäre im SOS-Bistro. Circa 20 Café-Gäste sitzen an den hellen Holztischen verteilt. Die Blumen in Glasväschen verbreiten einen leichten Frühlingsduft, der sich mit dem Kaffeegeruch aus der Küche mischt. Christian Reinhardt bedeutet dieser Ort viel, weil hier die Vielfältigkeit Hannovers in einem Raum zusammenkommt. „Hierher kommen sowohl Menschen, die mit Drogen gar nichts zu tun haben, als auch Menschen, die Drogen nehmen oder genommen haben. Außerdem Obdachlose und Leute, die einsam sind“, berichtet der Endfünziger. Seine Stimme wird ernst und warm, als er weiter spricht: „Hier dürfen Menschen herkommen, die andere Menschen brauchen und ein bisschen Gesellschaft suchen.“

Umschlagplatz Lebensgeschichten

Christian Reinhardt ist 58 Jahre alt und arbeitet als Lehrer an einer hiesigen Förderschule. Wenn er nachmittags von der Schule kommt, hat er eigentlich immer genug zu tun. Trotzdem nimmt er sich seit acht Jahren einmal in der Woche einen ganzen Nachmittag frei, um für die Gäste im SOS-Bistro da zu sein.

Die Menschen im SOS-Bistro sollen Wertschätzung erfahren.

Ausschlaggebend dafür war eine persönliche Lebenskrise. „Als meine Ehe zerbrochen ist und mein Familienleben mit fünf Kindern kaputt ging, bin ich in ein ziemliches Loch gefallen. Da brauchte ich unbedingt etwas, wo ich wieder Fuß fassen konnte. Ich habe nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht“, schildert er diese schwere Zeit. Dennoch zieht bei diesen Worten ein Lächeln über Christians Gesicht. Im SOS-Bistro hat er seinen Platz gefunden. Dort trifft der Lehrer Menschen, die wie er unperfekte Lebensgeschichten haben und gescheitert sind. „Auch wenn ich nicht mit einer Drogenvergangenheit aufwarten konnte, waren mir die Menschen im Bistro nicht fremd. Ich habe gedacht: ‚Vielleicht können wir voneinander profitieren.‘“

Inzwischen hat sich in Christians Leben wieder vieles stabilisiert und er merkt, dass für ihn der Kontakt zu den Menschen im Café wirklich zu einem Geben und Nehmen geworden ist.  Aus seinem Engagement nimmt er einiges mit:  „Ich habe mehr Glauben und Vertrauen gelernt, weil mir hier meine Begrenztheit bewusst wird: Ich kann eben nicht alles. Ich habe gelernt, häufiger zu beten und zu sagen: ‚Gott, du musst hier mal was machen. Es wäre richtig cool, wenn du die Menschen hier veränderst.‘“

Der kellnernde Lehrer

 

Das Café gehört zur Drogenhilfe Neues Land in Hannover und ist ein Angebot für jeden, der günstiges Essen oder Gemeinschaft mit anderen Personen haben möchte. Zu Christians Arbeit gehört: Kicker spielen, Kaffee kochen oder Essen servieren. Sehr gerne setzt der Ehrenamtliche sich auch einfach nur mal hin und hört seinem Tischnachbarn zu.  

Was sich wie eine nette Freizeitbeschäftigung anhört, ist allerdings oft harte Arbeit. Vor allem an den ersten Arbeitstagen hatte Christian Reinhardt öfters zu kämpfen: „Das Schwierigste war, dass eine Schicht fünf Stunden hat. Ich war schon nach einer Stunde platt wie eine Flunder und dachte: ‚Willst du dir das wirklich antun?‘“, erzählt er. Irgendwann wurde es einfacher, doch der Lehrer betont, dass es auch heute noch viele problematische Situationen zu meistern gibt: „Kritisch wird es, wenn Menschen alkoholisiert reinkommen. Eigentlich sollen sie das nicht, für uns ist das aber immer ein Zwiespalt: Schicken wir jemanden weg, weil er zu viel Promille hat, oder lassen wir ihn rein? Wir wollen niemanden wegschicken, aber manche bringen einfach sehr viel Agressivität mit.“

9 Wochen + 6.000 km = 30.000 €

Nichtsdestotrotz liebt der 58-Jährige die Arbeit im Bistro. Aus den Kontakten zu den Gästen werden Freundschaften. Mit der Zeit merkt Christian, dass er gerne noch mehr für sie tun würde. Da kommt er auf eine verrückte Idee: Mit dem Fahrrad einmal Deutschlands Grenzen abfahren. Locker erklärt er: „Ich fahre leidenschaftlich gerne Fahrrad und wollte schon immer mal eine richtig große Radtour machen. Also dachte ich mir: ‚Warum sollte ich das nicht mit einem guten Zweck verbinden und eine Spendentour für das Neue Land daraus machen? Da ich mal etwas anderes machen wollte, als an irgendeinem Flußlauf entlang zu radeln, kam mir die Idee mit der Deutschland-Umrundung.‘“

In seinen Schulferien umfährt der Hobby-Radler die über 6.000 km lange Grenze, um die Arbeit der Drogenhilfe mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu bringen – und das gelingt ihm! Sein Projekt wird schnell bekannt und fast wie von selbst verwandelt sich die Fahradtour in eine große Spendenaktion. Er strampelt 30.000 € zusammen. Sein eigenes Motto „An den Grenzen Deutschlands auch an die eigenen stoßen“ bekommt Christian bald deutlich zu spüren: Er hat unzählige steile Berge zu bezwingen, schlägt sich auf dem Rad mit einem Magen-Darm-Virus herum und ist dem ständigen Wechsel von Hitze und Kälte, Regen und Wind ausgesetzt.

Doch im August 2012 wird der Ehrenamtliche für seine Mühen belohnt. Die Gäste im Neuen Land begrüßen ihn überschwänglich. Sie sind stolz auf den Mann, der für sie um ganz Deutschland gefahren ist und sie in ihren Entzugstherapien  zum Durchhalten motiviert hat. Viele können kaum glauben, dass sich jemand so für sie ins Zeug gelegt hat. Er selbst ist auch überrascht: „Ich hätte nie gedacht, dass sich die Gäste im Neuen Land so sehr darüber freuen würden. Ihr Dank und ihr Vertrauen in mich ist die schönste Erfahrung dabei.“  

Durchs Ehrenamt bereichert

Diese Erfahrung hat Christian verändert. Sowohl die Deutschland-Umrundung, als auch der Kontakt zu den Menschen im SOS-Bistro haben das Ihrige getan. Er erzählt: „Früher war ich viel ängstlicher. Jetzt bin ich innerlich gelassener und angespornter. Es ist eine Ermutigung zu sehen, was Gott für Lebensgeschichten schreibt, auch wenn der Weg erst einmal beschwerlich ist.“ Sein Blick hat sich geweitet - für Deutschland und für Hannover. Eine neue Perspektive wünscht er sich auch für diejenigen, die einen Drogenentzug beim Neuen Land machen. Deswegen ist es mit der einen Fahrradtour auch noch lange nicht getan: Im September 2015 ist das Erika-Fisch-Stadion in Hannover für einen Sponsorenlauf gemietet. Mitmachen kann jeder, egal ob Jung oder Alt, Groß oder Klein, mit oder ohne Fahrgeräte.

Nähere Infos zum Sponsorenlauf 2015 hier: http://hoffnover.neuesland.net/
Übrigens: Christian Reinhardt hat auch ein Tour-Tagebuch geschrieben.  Weitere Infos unter http://www.neuesland.net/cms/buch-hoffnung-im-gepaeck.html.

Ein gutes Wort für die Gäste

Die Diskussion darüber, ob man sich beim Mensch-ärgere-dich-nicht!-Spiel nun ärgern soll oder nicht, hat sich inzwischen gelegt. Michael, ein Obdachloser mit einem blauen Veilchen am Auge, fragt Christian, ob er einen Pullover aus der Kleiderkammer bekommen kann. Der Ehrenamtliche blickt auf die Uhr und nickt. Er hat noch Zeit, bis er seine Zehn-Minuten-Andacht halten wird. Denn es liegt ihm am Herzen, den Besuchern am Ende der Schicht etwas mit zu geben – und das scheint ganz gut anzukommen: „Manche kommen auch erst zum Ende der Schicht her, weil sie wissen, da gibt es noch ein gutes Wort für mich. Ich glaube, die nehmen eine ganze Menge mit. Vielleicht brauchen sie auch das besondere, warme Gefühl: ‚Hier ist speziell für mich was gesagt oder was getan worden.‘ und das Wissen, dass sie wichtig sind. Ich würde mir wünschen, dass es so ist.“

 Sophia Sczesny

Sophia Sczesny

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