
06.07.2023 / Interview / Lesezeit: ~ 9 min
Autor/-in: Sarah-Melissa LoewenUnsere verkannten Schätze
Welchen Wert haben negative Gefühle und wie geht man gut damit um? Interview mit Psychotherapeutin Angelika Heinen.
Jeder kennt sie: Unangenehme Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit, die ungefragt auftauchen. Häufig versuchen wir, diese Emotionen gar nicht erst zuzulassen oder sie zumindest „im Griff“ zu behalten.
Die Psychotherapeutin Angelika Heinen klärt im Interview über diese vermeintlich negativen Gefühle auf und gibt Tipps, wie wir gesund damit umgehen können, anstatt sie zu unterdrücken. Außerdem zeigt sie, warum es sich lohnt, auch vor Gott schonungslos ehrlich und authentisch zu sein.
ERF: Warum sind Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit weder negativ noch schlecht?
Angelika Heinen: Wir bewerten Dinge als negativ, die moralisch verwerflich sind oder Schaden anrichten. Und das ist bei Gefühlen ein großes Missverständnis. Denn Gefühle sind – auch wenn wir sie nicht gerne erleben – trotzdem sehr wertvoll und wichtig für uns und unsere Beziehungen. Deshalb spreche ich lieber von „unangenehmen“ Gefühlen, weil da einfach nur drinsteckt: Ja, sie fühlen sich nicht gut an, wir mögen sie nicht, aber sie sind nicht schlecht oder verwerflich.
ERF: Christinnen und Christen glauben, dass Gott sie nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Was bedeutet das in Bezug auf Gefühle?
Angelika Heinen: Das bedeutet, dass Gott selbst einen fühlender und sogar ein sehr emotionaler und leidenschaftlicher Gott ist. Und dass er als Schöpfer auch uns mit Gefühlen ausgestattet hat, auch mit den unangenehmen Gefühlen. Dadurch sind wir Gott ein Gegenüber, mit dem er in Beziehung treten kann. Denn Gottes wichtigstes Anliegen ist es, dass wir eine Beziehung mit ihm eingehen. Dass wir seine Liebe annehmen, mit ihm im Gespräch sind und ihm vertrauen. Ohne Gefühle kann das aber nicht funktionieren.
Die Funktionen von unangenehmen Gefühlen verstehen
ERF: Gott hat uns also mit allen Emotionen geschaffen, auch mit den unangenehmen – und das aus gutem Grund. Was bezwecken Ärger, Angst und Traurigkeit?
Angelika Heinen: Gefühle gehören zur Grundausstattung, um in dieser Welt zurechtzukommen. Ihre Funktion besteht darin, uns aufmerksam zu machen auf Bedürfnisse, die nicht gestillt sind. Wenn unser Bindungsbedürfnis, also das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Zuwendung, nicht gestillt ist, empfinden wir Traurigkeit. Dann sagt uns dieses Gefühl: „Achtung, dir geht es in dem Bereich nicht gut, such dir Menschen, die für dich da sind und dir Gutes tun, damit dieses Bedürfnis gestillt wird.“
Bei Ärger geht es meist darum Grenzen zu setzen. Ärger entsteht da, wo wir irgendeine Art von Grenzüberschreitung erleben. Das können Beleidigungen und Entwertungen sein, Ungerechtigkeit oder dass ich Nein sage und jemand das konsequent ignoriert. Ärger ist ein sehr mächtiges, intensives Gefühl. Er macht uns darauf aufmerksam, dass wir unsere persönlichen Grenzen schützen.
Gefühle haben also eine wichtige Signalfunktion in Bezug auf unsere Bedürfnisse. Sie sind wie die Kontrolllampen im Auto, die aufleuchten, wenn wir Öl nachfüllen oder Benzin tanken müssen. Außerdem haben Gefühle eine wichtige soziale Funktion. Sie senden einen Appell nach außen und regeln unsere Beziehungen.
Ganz eindrücklich zeigt sich das bei Traurigkeit: Ein trauriger Mensch vermittelt durch seine Körperhaltung automatisch: „Komm her, tröste mich.“ Und was passiert dann? Es wird Bindung hergestellt. Bei Ärger passiert das Gegenteil. Menschen bleiben auf Abstand und wahren meine Grenzen. So sorgen diese Gefühle – wenn ich sie angemessen ausdrücke – automatisch dafür, dass meine Bedürfnisse gestillt werden, indem andere Menschen intuitiv richtig darauf reagieren.
Unangenehme Gefühle zu unterdrücken hat Konsequenzen
ERF: Gefühle drücken sich auch körperlich aus. In Redewendungen heißt es zum Beispiel „Mir sitzt die Angst im Nacken“ oder „Da dreht sich mir der Magen um“. Was passiert im Körper, wenn wir unsere Gefühle nicht rauslassen?
Angelika Heinen: Kurzfristig und auch langfristig verfestigen sich Spannungen im Körper. Ärger zum Beispiel löst ganz viel Energie aus, die nach außen drängt: Anspannung der Muskulatur, ein beschleunigter Puls, hoher Blutdruck. Aber wenn etwas, das explodieren will, mit Gewalt zusammendrängt wird, bleibt die ganze Energie im Körper stecken. Die Folge ist, dass Menschen chronische Muskelschmerzen haben wie Rückenschmerzen, Schulter- und Nackenverspannungen. Das ist die Folge des wortwörtlichen Zusammenreißens, um nicht auszurasten.
Vor lauter Zusammenreißen ist die ganze Muskulatur zusammengekrampft und das schlägt uns auch auf den Magen. Wenn wir genau hinspüren, merken wir nämlich, dass die Wut im Bauch sitzt. Es gibt etliche Menschen, die Magengeschwüre bekommen, weil sie ihrem Ärger keinen Raum geben.
Gefühle haben also viel mit den inneren Organen zu tun. Wenn man solche Beschwerden hat, lohnt es sich häufig auch einen Blick auf die emotionale Ebene zu werfen. Sich zu fragen: „Wie gut sorge ich gerade für mich? Bin ich im Frieden mit mir oder kämpfe ich gegen meine eigenen Gefühle an?“
Es ist spannend, wie Körper und Psyche zusammenarbeiten und der Körper manches ausdrückt, was auf einer emotionalen Ebene seinen Ursprung hat.
Unterdrückte Gefühle sind wie schimmelndes Brot
ERF: Welche Folgen kann die Unterdrückung von Gefühlen auf der psychischen Ebene haben?
Angelika Heinen: Viele Menschen verdrängen ihre Gefühle so weit, dass sie irgendwann nichts mehr fühlen. Das nennen wir Depression. Eine Depression ist keine Erkrankung, bei der man permanent traurig ist, sondern bei der man gefühlsmäßig tot und leer ist. Das ist das schlimmste Erleben, dass man nur noch funktioniert und wie eine Maschine durchs Leben läuft. Das ist der „Worst Case“.
Wenn ich konsequent meine Gefühle unterdrücke oder verstecke, verliere ich irgendwann ganz den Zugang dazu. Die Gefühle sind damit aber nicht weg, sondern sie gären sozusagen weiter vor sich hin. Stellen wir uns vor, ich habe ein Käsebrot, auf das ich gerade keine Lust habe. Nachher kommen Gäste und ich will nicht, dass es rumliegt, also lege ich es in die Abstellkammer und mache die Tür zu. Erstmal ist es „aus den Augen, aus dem Sinn“. Aber wehe, ich öffne nach ein paar Monaten die Abstellkammer und finde dieses Käsebrot. Wir können uns alle vorstellen, wie das riecht.
Vergleichbar gehen wir mit Gefühlen um, wenn wir sie wegschließen und stattdessen ein freundliches Gesicht aufziehen. Irgendwann fangen sie an zu stinken und zu faulen. Darunter leidet unsere Gesundheit und auch unsere Beziehungen.
Gott freut sich über Klartext statt über frommes Blabla
ERF: Welche Auswirkungen kann es auf unsere Gottesbeziehung haben, wenn wir diese Gefühle zum Beispiel aus unseren Gebeten raushalten?
Angelika Heinen: Das kann zur Folge haben, dass ich mich von Gott entfremde, weil ich das, was mich im Kern innerlich bewegt, nicht mit ihm teile. Wir alle kennen Situationen, in denen wir merken: „Da ist jemand nicht offen. Jemand hat ein Problem mit mir, spricht es aber nicht an.“
Dann liegt eine ungute Spannung in der Luft und man kann sich nicht gut in die Augen gucken und weiß nicht recht miteinander umzugehen. Aus dieser Atmosphäre entsteht automatisch Distanz, die auf Kosten des gegenseitigen Vertrauens geht.
Genau das passiert auch in meiner Gottesbeziehung: Wenn ich mich von Gott zurückziehe, pflege ich irgendwann nur noch eine formelle Beziehung mit ihm. Ich spreche zwar Gebetsfloskeln oder singe Lobpreislieder, merke aber, dass mein Herz nicht dabei ist. Manchmal meinen wir, Gott damit einen Gefallen zu tun, wenn wir die ganzen guten Gefühle ausdrücken, alles andere aber zurückhalten.
Aber ich glaube, Gott wartet sehnlich darauf, dass wir sagen, wie es uns wirklich geht. Dass wir Klartext sprechen, auch wenn es keine schönen Worte sind. Letztlich tun wir uns damit auch selbst einen Gefallen, weil wir uns so wieder Gottes Liebe zuwenden und der Kraft, die er uns geben kann.
Einen gesunden Umgang mit unangenehmen Gefühlen finden
ERF: Wie können wir einen guten Umgang mit unseren negativen Gefühlen finden? Haben Sie dafür konkrete Tipps?
Angelika Heinen: Es fängt damit an, dass ich meine Aufmerksamkeit nach innen richte und mir einen Moment Zeit nehme und spüre: „Wie geht es mir? Bin ich zufrieden oder fehlt mir gerade etwas? Wenn ich in meinen Körper hineinfühle, brodelt es da in mir oder merke ich einen Kloß im Hals?“ Also sich Zeit nehmen, achtsam sein und bewusst die Wahrnehmung für die eigenen Gefühle schulen.
Das zweite ist, zu erkennen, zu differenzieren und zu benennen, welche Gefühle da sind. Das ist für manche Menschen schon ein Prozess. Sie müssen die Unterschiede zwischen den Gefühlen lernen und Worte dafür finden. Denn die gefühlsbetonte Sprache ist eine ganz eigene Sprache. Wenn ich das aber übe, werde ich vertrauter mit meinen Gefühlen und kann kompetenter mit ihnen umgehen.
Im dritten Schritt geht es darum, das Gefühl anzunehmen und wirklich Ja dazu zu sagen. Und im vierten Schritt kann ich mich dem Gefühl zuwenden und gucken: „Um welches Bedürfnis geht es? Ist es an der Zeit, irgendwo eine Grenze zu ziehen? Oder sollte ich mal wieder mit jemandem ein vertrauensvolles Gespräch führen?“ Also mich mit dem Gefühl auseinandersetzen und dem Gefühl gerecht werden, statt davor davonzulaufen.
Spannend ist: Die Gefühle beruhigen sich dadurch. Manchmal unterliegen wir dem Irrglauben, dass ein Gefühl größer und mächtiger wird, wenn ich ihm Raum gebe. Wir fürchten, dass es mich so einnimmt, dass ich ihm völlig unterlegen bin.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich mich aktiv um dieses Gefühl kümmere, beruhigt es sich und bin ich nachher viel freier. Deshalb sollten wir den Mut dafür aufbringen, uns unseren Gefühlen zuzuwenden.
Unverschämt beten lernen
ERF: „Herr, ich komme zu dir und ich steh vor dir, so wie ich bin.“ Oder „Jesus zu dir kann ich so kommen, wie ich bin“. Das sind Lieder, die viele Christinnen und Christen aus dem Gottesdienst kennen und schon oft gesungen haben. Wie gelingt es uns, wirklich unverstellt vor Gott zu sein?
Angelika Heinen: Ich glaube, es ist eine gute Idee, diese Lieder wirklich ernst zu nehmen und ernst zu meinen und mich selbst kritisch zu fragen: „Schütte ich wirklich mein ganzes Herz bei Gott aus?“ Denn so heißt es in dem Lied weiter.
Ich habe manchmal den Eindruck, wir setzen an dieser Stelle ein Sternchen. Also ich schütte mein Herz bei Gott aus, aber im Kleingedruckten steht: „Ausgenommen Wut, Zorn, Beleidigungen und sündhafte und hässliche Gedanken über andere.“
Wenn ich so ein Lied singe, kann ich überprüfen: „Tue ich auch das, was ich da singe, oder sind es nur Worte?“ Ich möchte Mut machen zu einem radikal unverschämten Gebet. Also unverschämt im besten Sinne des Wortes, nämlich ohne Scham, frei, offen und authentisch. Das ist das Beste, was wir für unsere Gottesbeziehung tun können.
ERF: Haben Sie damit selbst schon Erfahrungen gemacht?
Angelika Heinen: Ich habe erlebt, wie ich dadurch aus einer emotionalen Starre herausgekommen bin. Ich hatte das Gefühl, ich muss Gott einen sehr ehrlichen und bitterbösen Beschwerdebrief schreiben über Erfahrungen, die mich verärgert und verletzt haben. Und ich habe da wirklich unverschämte Dinge niedergeschrieben.
Das war nicht leicht. Aber ich habe es gewagt und mein Herz wirklich ausgeschüttet, mit allem, was drin war. In dem Moment hatte ich den Eindruck, dass Gott mit offenen Armen vor mir steht und sagt: „Danke, dass du endlich ehrlich bist und dass du endlich aufhörst mit diesem frommen Spiel, damit, so zu tun als ob. Ich wusste es sowieso schon. Ich kenne dich doch und bin so froh, dass wir jetzt offen über das reden können, was los ist.“
Das hat mich so berührt und mich frei gemacht und ich habe mich angenommen und geliebt gefühlt mit diesen ganzen hässlichen Gedanken und Gefühlen, die ich in mir hatte. Damit waren dann auch die Gefühle wie aufgelöst. Denn ich habe Vergebung erlebt für diese Gedanken, für die ich mich so geschämt habe. Gott hat richtig aufgeräumt, aber sehr liebevoll, sanft und herzlich.
Deswegen ist das meine ganz große Empfehlung: Tür weit aufmachen und Gott alles ausdrücken. Denn es gibt nichts, womit wir Gott schockieren könnten. Er wird mit nichts überfordert sein, was in uns steckt, weil er es ja sowieso schon kennt.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
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