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02.11.2022 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Joachim Bär

Eine Pause entfernt

Im Hamsterrad des Alltags scheint die Ruhe unerreichbar. Dabei geht es nicht ohne sie. Joachim Bär über die Frage: Wann ist es auch mal gut?

Ich schätze die Ruhe am Morgen. Ich mag das Durchatmen am Abend. Und doch erlebe ich die Ruhe in meinem Leben vor allem als: umkämpft. Ich lege viel zu selten mein Handy zur Seite. News interessieren mich schon aus beruflichen Gründen. Effektivität und der Gedanke, etwas leisten zu können, stehen bei mir hoch im Kurs. Ruhe? Mehr Sehnsucht als Erfahrung. Warum also sollte ich etwas über die Ruhe schreiben?

Doch vielleicht bin genau ich der Richtige für diesen Beitrag. Weil ich es wie andere auch so oft nicht hinbekomme. Weil mich die Fragen umtreiben, zu denen ich Antworten suche. Weil ich mit meiner Suche nach Entspannung in bester Gesellschaft bin.

Eine Welt, die nicht ausruht

Das zumindest zeigen die gesellschaftlichen Trends. Die Stressstudie „Entspann dich, Deutschland!“ der Techniker Krankenkasse zeigte schon im Dezember 2021, dass sich ein gutes Viertel der Befragten häufig privat oder beruflich gestresst fühlen. Acht Jahre zuvor waren es noch 20 Prozent. Stressfaktor Nummer eins ist die Arbeit. Gerade in Berufen mit viel zwischenmenschlicher Interaktion.

Die Pandemie hat für zusätzliche Stressfaktoren gesorgt, wie z. B. die Angst vor schweren Krankheitsfolgen oder das Homeoffice mit Kindern. Seit Monaten kommt ein Krieg hinzu, der uns alle betrifft. Mich lassen die nun gültigen Abschläge meiner Energierechnung, die Beträge beim Tanken und Einkaufen nicht kalt – Stress lass nach! Bloß, wie?

Ruhe für alle Sinne

Ich wage den Rückblick. Hin zu den ersten Tagen dieser Welt, wie sie die Bibel beschreibt. Im ersten Mosebuch lesen wir von einer Woche voller Schaffenskraft. Gott gründet die Welt, erschafft die Lebewesen, den Menschen – es gibt genug zu tun. Doch dann, am siebten Tag, kommt die Arbeit zum Erliegen: „Am siebten Tag hatte Gott sein Werk vollendet und ruhte von seiner Arbeit“ (1. Mose 2,2). Diese Ruhe-Zeit ist der feierliche Abschluss und Höhepunkt der Schöpfungswoche.

Damit ist dem Leben ein Rahmen aus Anspannung und Entspannung gegeben. Der Mensch, als Abbild und Gegenüber Gottes geschaffen, soll es ihm gleichtun. Ich bin beauftragt zu arbeiten und etwas zu erschaffen. Und ich bin berufen zu ruhen.

Gott hält die Menschen mehrmals an, jeden siebten Tag als Ruhetag einzuhalten und als Sabbat zu feiern. (z. B. 2. Mose 20,10). Sabbat: In seiner Wortbedeutung steckt das Aufhören bzw. das „zu einem Ende kommen“. Er reicht vom Freitagabend bis zum Folgeabend und erinnert an die Ruhe Gottes nach getaner Arbeit und an sein Urteil darüber: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1,31). Die christliche Entsprechung ist bis heute der „Tag des Herrn“, der Sonntag, den spätestens Kaiser Konstatin zum verpflichtenden Feier- und damit auch zum Ruhetag gemacht hat.

Ich lese weiter über den Sabbat. Juden in aller Welt feiern ihn bis heute als besonderen Ausdruck dieses Wechsels in die Ruhe. Der jüdische Talmud, der die 613 Gebote und Verbote der Tora erklärt, kommentiert das Sabbatgebot. Neben einigen Tätigkeiten, die zu unterlassen sind, malt er ein lebensbejahendes und zugewandtes Bild davon, wie der Tag der Ruhe von der Arbeit gestaltet werden soll: in Gemeinschaft, mit gutem Essen, einem gedeckten Tisch, in festlicher Kleidung. Er dient auch der Besinnung auf Gott und sein Wort. Der Sabbat ist ein Ruhetag für alle Sinne, dessen Anfang und Ende genau definiert sind.

Die Entdeckung der Ruhe spricht mich neu an und ich möchte mehr wissen. Mir ist aber schon jetzt klar: Was ich bisher entdeckt habe, birgt schon jetzt genug Stoff, um meinen Alltag zu verändern. Es sind unter anderem diese Erkenntnisse, die mir hilfreich erscheinen:

Es geht nicht ohne die Ruhe

Die Ruhe gehört zum Grundrhythmus der Welt. Kein Tier, keine Pflanze und kein Mensch, die ohne das Ausruhen überleben könnten. Seit Anbeginn der Zeit gehört die Pause zu dieser Welt. Der Schöpfer macht es vor. Das Nichtstun nach getaner Arbeit ist kein unnötiges Beiwerk, keine Sünde, keine Option. Die Ruhe ist Teil des Lebens. Sie aus dem Leben zu drängen, bringt den Takt des Lebens aus dem Tritt, es gefährdet das Leben. Erkenntnis Nummer eins: Ich darf der Ruhe die Priorität einräumen, die sie schon längst hat.

Im Nichtstun entsteht etwas

Wie wichtig die Ruhe ist, zeigt sich in dem, was nur im Ruhen möglich ist. Wissenschaftler haben schon vor Jahren gezeigt, dass beispielsweise der Schlaf eine höchst aktive Phase der Erholung ist. Nicht mehr benötigte Eiweiße werden im Tiefschlaf doppelt so schnell aus dem Hirn entsorgt wie im wachen Zustand. Unsere Muskeln wachsen nicht beim Sport, sondern in der Zeit der Regeneration. In der Winterruhe erhalten die Bäume unserer Breitengrade ihre Kraft fürs nächste Jahr.

Das alles zeigt: Etwas passiert in der Zeit der Ruhe. Etwas, das auf anderen Wegen nicht möglich ist. Hier kann ich Gott begegnen (Psalm 46,11). Auch komme ich wieder zu Kräften und lerne jeden Tag aufs Neue. Erkenntnis Nummer zwei: Manche Dinge passieren erst, wenn ich aufhöre, etwas zu tun.

Vertrauen lernen

Die Ruhe führt mich weiter hinein in eine Lebenskunst. Denn viele Menschen fühlen sich lebendig, wenn sie etwas gestalten können. So spüren sie ihre Schaffenskraft und wissen: Es wird gut, weil ich es kann. Andere blicken sorgenvoll in die Welt und wollen möglichst viel selbst regeln und in der Hand behalten – weil sie die Dinge nur dann kontrollieren können.

Beide brauchen die Ruhe als Gegenmittel. Die einen, von der Überzeugung, alles selbst schaffen zu können. Die anderen von der Last, alles allein schaffen zu müssen. In der Ruhe lasse ich los und vertraue darauf, dass da jemand ist, der jetzt für mich sorgt. Jemand, der dieser Welt den Rhythmus aus Anspannung und Ruhe gegeben hat. Es liegt ein tiefes Vertrauen in dem alten Bibelzitat „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“, frei nach Psalm 127,2. Erkenntnis Nummer drei: „Ruhe ist ein Glaubensbekenntnis.“[1]

Ruhe braucht klare Entscheidungen

Leicht ist das alles nicht. Meine Tage füllen sich oft wie von selbst. Es gibt so viele gute und sinnvolle Dinge, die noch nicht getan sind. Wie könnte ich mich da ausruhen? Weil ich es muss. Und weil diese Welt niemals fertig sein wird. Es gibt immer mehr zu tun. Daher braucht es meine Entscheidung.

Es braucht das Nein zu den Dingen, die jetzt auch noch möglich sind. Es braucht den bewussten Wechsel in die Ruhe, daher auch die klaren Sabbatgebote. Es braucht einen Teil in meinem Leben, in dem die Arbeit nicht drängt, in dem ich das Handy zur Seite lege und der eigene Wille zum Schaffen ruht. Erkenntnis Nummer vier: Die Ruhe braucht die Klarheit an ihrer Seite.

Ganzheitlich ruhen

Dauerhafter Stress bringt einige negative, körperliche Folgen mit sich: erhöhter Cortisol-Spiegel, Heißhungerattacken, erhöhter Blutdruck und mehr. Da ist es nur folgerichtig, dass auch die Entspannung ganz sinnliche, körperliche Elemente enthalten sollte. Wohl auch deshalb gehören beim Sabbat, wie ihn die Juden feiern, viele Sinneseindrücke dazu: gutes Essen, Trinken, der Schein der Kerzen, Gemeinschaft, gesprochene Gebete. Wenn der Körper entspannt und versorgt ist, kann die Seele folgen.

Ruhe-Zeiten sind also nicht per se stille Zeiten. Ich darf das tun, was mir guttut. Dazu gehört auch der Kontakt mit meinem Schöpfer, der wohlwollend auf mich wartet. Erkenntnis Nummer fünf: Die beste Ruhe ist ganzheitlich.

Die kleinen Möglichkeiten nutzen

Just kommt mir ein Gedanke: Es ist gut für heute! Ich ruhe jetzt vom Schreiben. Zwar gäbe es noch etliches zu sagen, dieser Beitrag ist nicht perfekt. Gut ist er allemal, finde ich.

So hat mich die Beschäftigung mit der Ruhe und dem Ruhetag direkt etwas gelehrt. Zwar lebe ich weiter in dieser hektischen, teils chaotischen Zeit, und ich werde mich nicht komplett zurückzuziehen können. Und doch will ich künftig bewusster die Ruhepunkte im Alltag suchen und daran festhalten: Es ist gut für den Moment. Jetzt ist Mittagspause, Feierabend, Wochenende – und Sonntag für mich.

Wenn ich diese größeren und kleineren Ruhepunkte ernst nehme, führen sie mich wieder hinein in ein ganzheitliches Leben im Rhythmus der Schöpfung. Ein Leben, in dem ich Dinge auch wachsen lasse. Ein Leben im Vertrauen in den Schöpfer.

So gesehen ist dieses Leben nicht unerreichbar, Erkenntnis Nummer sechs: Es fängt mit der nächsten Pause an. Danach ist immer noch genug Zeit für das, was zu tun ist.

 

 

Joachim Bär ist Gesamtredaktionsleiter und hat schon einige Wege in die Ruhe gefunden. Zuletzt hat ihn neu fasziniert, wie still es im Wald meist ist.

[1] Thomas Sjödin: Warum Ruhe unsere Rettung ist, S. 57
 

 Joachim Bär

Joachim Bär

  |  Unit Leader erf.de / Antenne

Koordiniert die übergreifenden Themen der redaktionellen Angebote des ERF. Er ist Theologe und Redakteur, ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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