
06.11.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min
Autor/-in: Christine KellerBeim Kinderschutz sparen?
Warum in Deutschland beim Kinderschutz Nachholbedarf besteht.
„Deutschland misshandelt seine Kinder“ – unter diesem Titel ist im Juni 2015 die zweite und erweiterte Auflage des erschreckenden Berichts der Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat erschienen. Tsokos und Guddat schildern Fälle aus ihrem Arbeitsalltag, die zeigen: Der Kinder- und Jugendschutz in Deutschland versagt an vielen Stellen. Über 200.000 Kinder pro Jahr erleben Gewalt durch Erwachsene – manchmal mit tödlichen Folgen.

Warum die Zahl so erschreckend hoch ist? Die Rechtsmediziner beklagen unter anderem die Arbeitsbedingungen in sozialen Einrichtungen. Junge, unerfahrene und gleichzeitig überarbeitete Sozialarbeiter sollen gefährdete Kinder und Familien betreuen und erkennen, wann eine Kindesmisshandlung vorliegt. Die hohen Arbeitsanforderungen sorgen dafür, dass viele Angestellte schnell den Job wechseln. Wir haben über diese Problematik, aber auch Wege zu einer Verbesserung im Kinderschutz mit Wolfgang Dittrich gesprochen. Er ist Referent für gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Wetterau und hat zuvor die Fachstelle Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) im Kreis Wetterau geleitet.
ERF: Warum schlägt Ihr Herz für soziale Arbeit?
Wolfgang Dittrich: 100 prozentig weiß ich das nicht. Vielleicht habe ich ein soziales Gen, das andere nicht haben. Ich habe ursprünglich Werkzeugmacher gelernt und musste viel mit Maschinen arbeiten. Da habe ich festgestellt, dass das nicht mein Ding ist. Mich interessieren Menschen und ihre Probleme einfach mehr. Was mich außerdem interessiert hat, war das Bild von einer solidarischen, gerechten Gesellschaft. Dafür wollte ich mich engagieren. Wenn man meinen Konfirmationsspruch sieht, findet sich das dort auch wieder. Der Spruch lautet nämlich: „Einer trage die Last des anderen, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ (Galater 6,2) Das sehe ich ein Stück weit als meinen Auftrag.
Sparkurs sorgt für Überbelastung
ERF: Nach Ihrem Antritt als Referent im Evangelischen Dekanat haben Sie dem Kreis Wetterau einen radikalen Sparkurs vorgeworfen, „der die Jugendhilfe auf einen falschen Kurs gebracht hat“. Was war der Auslöser für diese Kritik?
Wolfgang Dittrich: Der Auslöser war die Situation im Jugendamt – speziell im Allgemeinen Sozialen Dienst. Es gab ganz klar eine personelle Unterausstattung und eine hohe Arbeitsbelastung, die die Arbeit schwierig gemacht hat. Auch nach meinem Austritt habe ich noch Gespräche mit Personen aus dem Jugendhilfeausschuss geführt und musste feststellen: Es hat sich nichts geändert. Das war für mich der Auslöser zu reagieren.
Hinzu kam, dass ich es als schwierig empfunden habe, dass sich die Jugendhilfe stark an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert hat. Es stand weniger im Mittelpunkt, was Familien, Kinder und Jugendliche brauchen; sondern eher, wie Kosten eingespart werden können. Das hat die Jugendhilfe nachhaltig verändert. Man hat Außenstellen geschlossen, sodass man nicht vor Ort sein kann, um zu vernetzen – was aber in der Sozialarbeit notwendig ist. Das macht die Arbeit für die Sozialarbeiter natürlich schwerer.
ERF: Sind Sparmaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe ein deutschlandweites Problem?
Wolfgang Dittrich: Deutschlandweit fehlt mir sicherlich der Gesamtüberblick. Für Hessen kann man sagen, dass ein hoher Spardruck herrscht. Es ist eine neue Studie rausgekommen, die aufzeigt, dass die hessischen Kommunen – die Landkreise und kreisfreien Städte, die Träger der Jugendhilfe sind – gemessen an anderen Kommunen in Deutschland finanziell schlecht ausgestattet sind. Hinzu kommt, dass in Hessen eine Schuldenbremse eingeführt wurde und einige Kommunen unter dem Rettungsschirm stehen. Das erzeugt natürlich einen hohen Druck; auch die Verantwortlichen in der Jugendhilfe stehen unter dem Druck, Sparmaßnahmen durchzuführen und Ergebnisse zu erzielen. Da muss man allerdings andere Prioritäten setzen, denn letztendlich leidet der Kinderschutz darunter. Für Hessen kann man auf jeden Fall sagen, dass in den Jugendämtern durchaus Probleme herrschen: Überlastung und hohe Arbeitsbelastung, die durch den Spardruck kommen.
Mitarbeiter werden zum Teil „verheizt“
ERF: Nicht nur Sie kritisieren das knappe Budget für das Jugendschutzsystem in Deutschland. Die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat üben auch Kritik an den zu geringen Löhne für die Sozialarbeiter, die im Auftrag des Jugendamts Familien betreuen. Deswegen würden diesen Job häufig unerfahrene Berufseinsteiger übernehmen, die dann aber so schnell wie möglich wechseln. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Wolfgang Dittrich: Ich habe diesen Drehtüreffekt selbst erlebt, wenn wir Stellen besetzen mussten. Da haben Personen schon gesagt: „Nein, das mache ich nicht mit.“ Die berufliche Belastung ist enorm. Besonders die jungen Sozialarbeiterinnen haben darunter gelitten und sind zum Teil verheizt worden – das muss man deutlich sagen. Es war kaum Zeit, neue Mitarbeiter einzuarbeiten und ihnen das Arbeitsumfeld zu zeigen. Das hat zu Unzufriedenheit geführt. Es geht hier um eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die letztendlich nicht entsprechend entlohnt wird. Wenn man dann ein Arbeitsumfeld hat, das nur hohe Belastung liefert, guckt man sich auf dem Arbeitsmarkt um und geht wieder. Was dann wiederum dafür sorgt, dass diejenigen, die bleiben, erneut belastet werden.
ERF: Das Jugendamt möchte, dass die betreuten Familien den Sozialarbeiterinnen vertrauen und deswegen werden in der Regel Termine vereinbart, wann die Betreuer in den Familien nach dem Rechten sehen. Inwiefern können die Familien den Sozialarbeiterinnen dann etwas vorspielen?
Wolfgang Dittrich: Da muss man unterscheiden: Wenn eine Gefährdungsmeldung vorliegt, gibt es einen klaren Ablauf für die Sozialarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst. Dieser kann auch vorsehen, dass man unangemeldet einen Hausbesuch macht, je nachdem, wie die Gefährdung eingeschätzt wird. Hausbesuche werden grundsätzlich zu zweit gemacht und es wird natürlich nach einiger Zeit schon schwieriger, etwas vorzuspielen. Die Sozialarbeiter haben aber vor allem die Aufgabe, die Kinder in Augenschein zu nehmen. Natürlich braucht man dafür gut ausgebildete Sozialarbeiter, die eine gewisse Berufs- und Lebenserfahrung besitzen und Situationen gut einschätzen können. Eine 100%ige Sicherheit gibt es aber trotzdem nicht. Aber wir müssen zusehen, dass wir an die Familie so nah wie möglich rankommen.
ERF: Haben Sie denn erlebt, dass Familien es geschafft haben, längere Zeit etwas zu verheimlichen?

Wolfgang Dittrich: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass zu meiner Zeit ein solcher Fall aufgetreten ist. Aber eine 100 prozentige Sicherheit kann niemand geben. Man muss sich auf die Einschätzung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verlassen können. Was sicherlich in dem Zusammenhang eine Schwierigkeit für uns war: Manchmal konnten wir beim Familiengerichtsverfahren mit unserem Standpunkt nicht durchkommen. Familiengerichte spielen dann eine Rolle, wenn die elterliche Sorge berührt wird. Da habe ich schon Fälle erlebt, in denen wir eine völlig andere Einschätzungen hatten als das Familiengericht. Es gab zum Beispiel einen Fall, wo Missbrauch vorlag. Letztendlich sollten die Kinder in ihre Familie zurück, nachdem wir sie rausgenommen hatten. Die Situation sollte dann mit einer sozialpädagogischen Familienhilfe aufgefangen werden. Das haben wir damals als sehr schwierig eingeschätzt.
Elternkompetenz frühzeitig stärken
ERF: Um Kindesmisshandlung in Familien schneller aufzudecken, fordern Tsokos und Guddat, dass Kleinkinder entweder in die Kita gehen oder ihr Zustand vom Jugendamt innerhalb von kurzen Zeitabständen überprüft wird. Was halten Sie von dieser Forderung?
Wolfgang Dittrich: Um Kindesmissbrauch oder Kindeswohlgefährdung zu vermeiden, kann man nicht jede Familie unter Generalverdacht stellen und deswegen alle Kinder in Kitas stecken. Das fände ich einen schwierigen Ansatz. Sicherlich ist es so, dass Kindertagesstätten und Schulen eine wichtige Rolle im Kinderschutz spielen. Dadurch, dass Erzieherinnen und Lehrer den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben und ein Stück weit geschult sind, können sie dazu beitragen, dass der Kinderschutz verbessert wird. Aber deswegen generell zu sagen, dass alle Kinder in Kindertagesstätten müssen, halte ich für falsch.
ERF: Tsokos und Guddat sprechen von mehr als 200.000 betroffenen Kindern pro Jahr, die Gewalt durch Erwachsene erleiden müssen. Welche Veränderungen im deutschen Kinder- und Jugendschutzsystem sind notwendig, damit so etwas nicht mehr vorkommt?
Wolfgang Dittrich: Wir müssen die Elternkompetenz stärken durch eine gute Beratung und frühzeitige Angebote, wenn sich Krisen abzeichnen. Sicherlich ist es bei Sozialarbeiterinnen in dem allgemeinen Diensten auch wichtig, eine Fallzahlbeschränkung einzuführen, sodass sie Zeit haben, sich mit den Familien zu beschäftigen. Eine gute Sache sind die frühen Hilfen, die werdenden Eltern und Neugeborenen angeboten werden. Sie können betreut werden und dadurch eine gewisse Sicherheit bekommen. Diese Hilfen sollten unbedingt ausgebaut werden, damit Hilfeleistungen den Eltern frühzeitig zur Verfügung gestellt werden können.
ERF: Welche Ziele haben Sie sich in der Kinder- und Jugendhilfe als Referent für gesellschaftliche Verantwortung im Kreis Wetterau gesetzt?
Wolfgang Dittrich: Wir haben es vorhin schon mal angesprochen, dass ich öffentlich reagiert habe, nachdem ich als Leiter im Allgemeinen Sozialen Dienst ausgeschieden bin. Das hat dazu geführt, dass im Wetterau-Kreis im Jugendamt neue Stellen geschaffen wurden. Das habe ich als wichtig angesehen, weil die Situation damals schwierig war. Darüber hinaus bin ich mittlerweile beratend im Jugendhilfeausschuss aktiv und mein Ziel ist dort, die Jugendhilfe bei den Verantwortlichen insgesamt mehr in den Fokus zu rücken und eine Art Lobby aufzubauen. Ich fände es gut, wenn der Jugendhilfeausschuss vor Ort stärker seine Verantwortung erkennt und die Jugendhilfe zu Gunsten der Jugendlichen verändert. Das sind meine Ziele.
ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
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