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20.10.2015 / Reportage / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Sophia Sczesny

Gefangen im eigenen Körper

Seit 14 Jahren hat Irmgard Grunwald ALS. Ich habe sie einen Tag lang begleitet.

Irmgard rollt den Feldweg entlang. Um mit ihr Schritt halten zu können, muss ich ziemlich zügig laufen – sie ist ganz schön flott unterwegs auf ihren vier Rädern. Es ist schön, den Fahrtwind in ihren Haaren zu sehen. Sie wirkt plötzlich so energiegeladen, obwohl sie unbeweglich ist und der „Spaziergang“ für sie große Anstrengung bedeutet. Ich besuche Irmgard heute, um einen TV-Beitrag über sie zu drehen.

 

In der kurzen Zeit zusammen, habe ich schon herausgefunden, dass wir beide große Naturliebhaber sind. Umso schwieriger finde ich es, mich in Irmgards Situation hineinzuversetzen. Es muss schrecklich sein, die eigenen Beine nicht mehr durch die Wiesen und Felder bewegen zu können. Ehrlich gesagt, kann ich es mir überhaupt nicht vorstellen. Ich weiß nur, dass es der absolute Horror für mich wäre. Ich überlege, was sie gerade denkt – hier zwischen den Kornfeldern – und ob sie vielleicht ein bisschen traurig wird, weil sie an früher denkt. An ihr Leben ohne Krankheit.

Doch da beginnt sie auf einmal verschmitzt zu lächeln. Ihr Mann Martin hat sich ihr einige Meter voraus übermütig in den Weg gestellt und breitet die Arme aus. Als Irmgard knapp vor ihm den elektrischen Rollstuhl bremst, beugt er sich hinunter und küsst sie auf den Mund. Und dann noch einmal. Irmgards Atemmaske scheint gar nicht zu stören.

Schock-Diagnose: Unheilbare, tödliche Krankheit

Irmgard Grunwald ist 55 Jahre alt, verheiratet und hat fünf erwachsene Kinder. 2001 wurde bei ihr die tödliche Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert. Als im Sommer 2014 die Ice Bucket Challenge in den sozialen Netzwerken auf diese Krankheit aufmerksam machte, konnte  ich damit nicht viel anfangen. Inzwischen weiß ich mehr darüber: Zum Beispiel, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Patienten nur zwei bis drei Jahre beträgt. Irmgard lebt nun schon vierzehn Jahre damit. Schon in ihrem zweiten Krankheitsjahr wird die früher so aktive Frau ein Pflegefall: Unbeweglich, nicht fähig, irgendetwas alleine zu tun; immer auf die Hilfe anderer angewiesen. Nur Atmen kann sie mithilfe einer Maske noch selbständig.

Irmgard Grunwald mit Freunden in ihrem Wohnzimmer
Über Besuch freut sich Irmgard Grunwald immer. (Bild: ERF Medien)

Im TV-Beitrag möchte ich ihre Geschichte und ihren besonderen Umgang mit der Krankheit erzählen. Angesichts all der Fakten fragte ich mich anfangs jedoch, ob aus ihrer Geschichte überhaupt ein Mut machender Beitrag entstehen würde. Mir blieb letztendlich nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass jene Irmgard, die ich treffen würde, identisch ist mit der humorvollen, ehrlichen, optimistischen, lebensbejahenden Irmgard, die ich in ihren Büchern kennengelernt habe. Ja – Sie haben richtig gelesen. Bücher schreibt sie auch noch. Immer wieder betont sie darin, dass es ihre Beziehung zu Gott ist, die ihr hilft,  mit dieser ausweglosen Situation klar zu kommen. Das macht mich neugierig. Sieben Werke hat sie seit Krankheitsbeginn veröffentlicht. Noch so ein Rätsel, das ich heute knacken will. Wie, um alles in der Welt, schafft sie das?

Unbegründete Berührungsängste und gut gelaunte Karpfen

Am Morgen des Drehtages bewegen mich allerdings noch völlig andere Fragen. Ganz zu schweigen davon, dass der Zug – wie sollte es anders sein – 20 Minuten Verspätung hat und ich höchstwahrscheinlich den Anschlusszug verpassen werde. Ich sitze also auf glühenden Kohlen und mir schießen die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf: Wie wird Irmgards gesundheitlicher Zustand sein? Ob sie sprechen kann? Wie soll ich sie überhaupt begrüßen, wenn ihre Hände unbeweglich sind? Hoffentlich bin ich feinfühlig genug. Hoffentlich überschütte ich sie nicht mit Mitleid.

Schließlich komme ich doch noch pünktlich am Zielbahnhof an und bin ich erst einmal erleichtert – eine Sorge weniger. Dafür frage ich mich jetzt, mit was für einem Gefühl mein Kamerateam wohl in diesen Tag gestartet ist? Ein bisschen merke ich ihnen an, dass sie auch nicht so recht wissen, was sie heute erwarten wird. Ich steige zu ihnen ins Auto und wir reden über den heutigen Ablauf.

Als wir das Wohnzimmer von Familie Grunwald betreten, werfe ich meine ganzen Befürchtungen über Bord. Irmgard und Martin begrüßen uns fröhlich. Ich freue mich auch und berühre Irmgard am Arm, anstatt ihr die Hand zu schütteln. Hinter ihrem Rollstuhl hoppeln zwei Kaninchen durch den Garten. Ich bin ganz entzückt und Irmgard erklärt belustigt, dass sie absolut tiervernarrt sei und ihre Kinder das ein bisschen peinlich fänden. In den Vitrinen stehen Tierfiguren und an der Küchenwand hängt ein Karpfen, der auf Knopfdruck singt. Bei seinem knorrigem „don’t worry, be happy“ singe ich ein bisschen mit und wir lachen. Dann sagt Irmgard: „Leider kann ich nicht mehr singen.“ Das geht mir nahe. Ich versuche nach zu vollziehen, wie es ist, die einfachsten Dinge nicht mehr tun zu können. Für mich gibt es nichts Schöneres, als gutgelaunt meine Lieblingslieder zu schmettern. Für Irmgard auch. Sie kann jetzt nur noch zuhören.

Wahre Liebe und wahre Geduldsproben

Irmgards Körper ist tatsächlich unbeweglich. Nur den Kopf und den linken Arm kann sie leicht bewegen und damit den elektronischen Rollstuhl steuern. Während des kurzen Interviews bin ich überrascht, wie gut sich die gelernte Übersetzerin trotz Atembeschwerden noch artikulieren kann. Ich bin erleichtert, dass sich auch diese Besorgnis als unnötig erwiesen hat. Die restliche Zeit plaudere ich fröhlich mit ihr und ihrem Mann. Martin arbeitet vier Tage in der Woche als Entwickler für Medizinprodukte und ist in seiner restlichen Zeit ganz für seine Frau da. Ich bin beeindruckt von seiner Sensibilität und seinem liebevollen Umgang mit Irmgard. Die beiden führen eine innige Beziehung. Sie sind völlig auf einander abgestimmt, haben viel Humor und witzeln herum. Auch wenn Irmgard körperlich unselbständig ist – geistig sind sie und ihr Mann auf einer Ebene. Ist ihre Ehe vielleicht deshalb intensiver?

Foto von Irmgard Grunwald, bei dem sie auf einem Pferd sitzt
Irmgard beim Ausritt mit ihrem Pferd. (Bild: privat)

Ich möchte wissen, was Irmgards Hobbys sind. Da hat natürlich ein extremer Umschwung stattgefunden: Musik hören und Lesen ersetzen nun das geliebte Ausreiten mit dem eigenem Pferd, Schwimmen und Rad fahren. Und selbst bei den Tätigkeiten im Sitzen funktioniert nicht alles reibungslos: Martin schiebt das sperrige Gestell der Lesehilfe in die Mitte des Wohnzimmers und erklärt uns die Mechanik. Seine Frau sitzt vor dem großen weißen Ständer, der eine Zeitschrift einspannt. Das Gerät ist an den Strom angeschlossen, ein anderes Kabel führt zu einem kleinem Kissen, das Irmgard mit dem Hinterkopf betätigen kann. Wenn sie drückt,  blättert das Gerät um. Der Kameramann bittet Irmgard einmal umzublättern. Ich sterbe fast vor Ungeduld! Einmal Blättern inklusive lautem, nervigem Maschinengeräusch dauert fast eine ganze Minute lang! Wie soll man denn da beim Lesen entspannen? Dann geht auch noch etwas schief – Irmgard muss es nach einer Minute erneut versuchen. Doch sie nimmt das gelassen. Ihr bleibt ja auch nichts anderes übrig.

 
Irmgards Alltag: Geduldsproben beim Lesen
 

Irmgard macht das Beste aus den Umständen

Neugierig will ich nun herausfinden, wie Irmgard eigentlich die E-Mails an mich geschrieben hat – und natürlich ihre Bücher. Dafür fährt sie mit dem Aufzug in den ersten Stock. Dort rückt und schiebt ihr Mann den Computertisch und Irmgards Rollstuhl so lange zurecht, bis sie sich in einer angenehmen Haltung befindet. Dann legt Martin den Arm seiner Frau  auf eine Stütze. Nun kann Irmgard mit der Kraft aus der Schulter die rechte Hand in kleinen Bewegungen über ein Touchpad führen und Buchstabe für Buchstabe auf der Bildschirmtastatur anklicken. Die durchschnittliche Tippgeschwindigkeit: 15 Wörter in viereinhalb Minuten. Ihr Kommentar dazu: „Manchmal komme ich mir beim Verfassen von Texten vor wie ein Radrennprofi, der gezwungen wird, auf ein Dreirad umzusteigen.“ Unglaublich, aber Irmgard kommt damit trotzdem ins Ziel: „Auch wenn ich mühsam Buchstabe für Buchstabe und Zeile für Zeile schreibe, wird ein Buch daraus. Wenn Gott mir noch genügend Zeit dafür gibt.“  Ich kann nur staunen über diese Unverzagtheit.

Irmgard Grunwald tippt Buchstabe für Buchstabe mithilfe ihres Touchpads
Mithilfe eines Touchpads tippt Irmgard langsam Buchstabe für Buchstabe. (Bild: ERF Medien)

Und was mache ich daraus?

Nach einem gemeinsamen Kaffeetrinken verabschieden sich mein Team und ich uns von Irmgard und Martin. In mir kommen zweierlei Gefühle hoch: Auf der einen Seite bin ich traurig darüber, dass so eine fröhliche Ehefrau, Freundin und Mutter ihren Lieben irgendwann genommen wird und dass sie sich mit einer scheußlichen Krankheit herumschlagen muss. Auf der anderen Seite bin ich erleichtert über die entspannte Atmosphäre heute. Außerdem habe ich verstanden, dass Irmgard nicht nur lebensfrohe Bücher schreibt, sondern diese zuversichtliche Haltung auch wirklich ihren Alltag prägt. Ich habe begriffen, dass sie sich trotz der Krankheit am Leben freut.

Auch mein Kamerateam ist überrascht, wie positiv der Tag war. Von Irmgard habe ich heute viel lernen können. Ich nehme mir vor, sie mir nicht nur in Sachen Geduld zum Vorbild zu nehmen, sondern auch im Umgang mit schwierigen Situationen.  Zu versuchen, dem Schlechten etwas Gutes abzugewinnen. Irmgard ist für mich der beste Beweis, dass es sich lohnt, in schwierigen Situationen immer wieder Gottes Nähe zu suchen und zu erwarten, dass er mit Kraft und Rat zur Seite steht. Ich bin gespannt, ob ich geduldig genug bin, mich darin zu üben.

 Sophia Sczesny

Sophia Sczesny

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Kommentare (3)

Heidi K. /

Trotz meinen den Einschränkungen mit denen ich tagtäglich bedingt durch meiner Körperbehinderung zu kämpfen habe, kann und möchte ich nur über Gottes Kraft und sein unendliche Hilfe staunen die er mehr

Carina H. /

Ja Hut ab vor Irmgard.!!!! Wenn ich bedenke wie schnell ich "ausraste" wen mal meine Beine springen (bin querschnittgelähmt) , oder die Inkontinenz viel zu oft präsent ist !Doch durch Gottes Gnade mehr

Wolfgang S. /

vielen Dank für das Zeugnis von dieser beindruckenden Frau und ihrem Ehemann. Es hilft, die eigenen, im Verhältnis winzigen Beschränkungen einzuordnen und dankbarer zu sein.
Es wäre schön, wenn mehr

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