
31.12.2014 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min
Autor/-in: Ramona EibachAus der Vergangenheit lernen (2)
Warum ein Jahresrückblick wichtig für die Zukunft ist
Nachdem die Psychiaterin und Psychotherapeutin Andrea Schwalb im gestrigen Interview allgemeine Tipps für einen Jahresrückblick gegeben hat, geht es heute im zweiten Teil des Interviews vor allem darum, was man aus einem solchen Jahresrückblick über die eigene Persönlichkeit lernen kann und wie man sich davon ausgehend, Ziele für das nächste Jahr setzt.
ERF Online: Wie gehe ich einen Rückblick richtig an, wenn ich wirklich etwas über mich lernen will?
Andrea Schwalb: Ich sollte mich fragen: „Welche Ziele hatte ich für dieses Jahr?“ und dann ehrlich hinschauen, was davon gelungen ist und was nicht. Danach sollte ich mir die Frage stellen, was die Ursache dafür sein könnte, dass mir Dinge nicht gelungen sind. Wir haben Wünsche, die wir immer direkt angehen. Und wir haben oft innere Antreiber, die genau das Gegenteil von dem wollen, was wir eigentlich erreichen wollen. Und wenn ich diese Antreiber nicht verstehe, kann ich mich abkämpfen und trotzdem mein Ziel nicht erreichen.
Ich kann mir zum Beispiel vornehmen: Ich möchte am Jahresende mehr Gelassenheit gelernt haben und weniger erschöpft sein. Aber dann stelle ich am Jahresende fest: Ich habe mehr gearbeitet als im Vorjahr. Dann müsste ich mir eigentlich die Frage stellen: Warum? Mein ursprüngliches Ziel war ein anderes, aber es gibt Motive in mir, die dazu führen, dass ich etwas völlig anderes tue als das, was ich wollte. Dann kann ich mir die Frage stellen, ob es vielleicht innere Antreiber gibt, die mir zum Beispiel einreden: „Nur wenn du viel geleistet hast, bist du okay.“ Wenn ich diesen inneren Satz verstehe und für diesen inneren Antreiber eine andere Antwort finde, kann ich tatsächlich etwas verändern. Sonst werde ich dem immer wieder folgen, auch wenn ich mir äußerlich ein anderes Ziel gesetzt habe.
Innere Antreiber erkennen und Stärken fördern
ERF Online: Ob etwas gut oder schlecht gelaufen ist, hängt also auch von meinen eigenen Ansprüchen ab. Wie kann ich falsche Ansprüche entlarven?
Andrea Schwalb: Ob meine Ansprüche deutlich überhöht sind, können mir oft andere Menschen in meiner Umgebung sagen. Bei ihnen kann ich mir eine ehrliche Rückmeldung holen. Aber danach müsste ich mich fragen: Warum ist das für mich so wichtig? Und dann sind wir wieder bei den versteckten inneren Antreibern. Wir müssen uns fragen: Wozu brauchen wir die? Wir machen ja nichts ohne Grund und wir hatten in unserem Leben sicher einen guten Grund, auf diese Art und Weise eine Situation zu bewältigen. Häufig wird diese Bewältigungsstrategie erst viel später zu einem Problem, weil das eben nicht die richtige Lösung für alle Schwierigkeiten ist. Und dann muss ich mich hinterfragen, ob das immer noch für mich gelten soll.
Wenn ich zum Beispiel nach dem Motto lebe: „Ich muss es meinen Eltern recht machen“, dann hatte dies in der Kindheit durchaus einen Sinn. Nur wenn ich mich mit Fünfzig immer noch anstrenge, es meinem Chef, Partner, meinen Kindern und vielleicht auch noch meinen Eltern recht zu machen, komme ich unter Druck. Dann gelange ich an einen Punkt, an dem ich hinterfragen muss, ob dieses Konzept weiterhin tragend für mein Leben sein soll. Es war als Lösung in der Kindheit sinnvoll, aber im jetzigen Zustand ist es das vielleicht überhaupt nicht mehr. Vor diesem Hintergrund ist es ganz wichtig, neue Erfahrungen zu sammeln. Das ist nicht nur eine Entscheidung, wir müssen unser Verhalten einüben. Nur was wir üben und anwenden, belegt unser Gehirn mit dem Gefühl: „So ist das in Ordnung.“ Bei allem Neuen sagt unser Gehirn erstmal: „Kenne ich nicht, machen wir nicht.“ Wenn wir also anfangen umzudenken, haben wir am Anfang immer das Problem, dass sich unser Gehirn erst an diesen neuen Gedanken gewöhnen muss. Und das fühlt sich anfangs nicht richtig an. Aber diese Übergangsphase muss ich überstehen, bis sich mein Gehirn auf das neue Verhalten eingestellt hat.
ERF Online: Was kann ich in einem Jahresrückblick über meine Stärken und Schwächen lernen?
Andrea Schwalb: Wenn ich nur versuche, meine Schwächen immer weiter zu reduzieren, verwende ich sehr viel Energie darauf, lande aber nie bei null. Denn für die letzten 20 Prozent Veränderung brauche ich 80 Prozent meiner Kraft. Ich kann aber auch bewusst entscheiden, meine Stärken auszubauen. Ich schaue dann auf das, was ich kann, baue diese Stärken aus und frage mich dann im Rückblick: „Wo ist mir das gelungen?“ Wenn ich das mache, werde ich diesen Weg verstärken, denn unser Gehirn ist so gebaut, dass bei den Dingen, mit denen wir uns viel beschäftigen, mehr Verbindungen geschaffen werden. Wenn wir also gezielt trainieren, auf die positiven Dinge zu schauen, wird das immer mehr zu unserer Grundhaltung. Und darüber kann ich dann tatsächlich etwas verändern.
Sich selbst vergeben lernen
ERF Online: Ich habe den Vorschlag gelesen: Wenn Menschen ein Resümee über eine Zeit in ihrem Leben ziehen, sollen sie sich diese Zeit als Perlenkette vorstellen und für jedes positive Erlebnis eine rote Perle auffädeln und für jedes schlechtes eine schwarze. Wie gehe ich denn damit um, wenn mein letztes Jahr zum großen Teil aus schwarzen Perlen besteht?
Andrea Schwalb: Ich mache so einen Rückblick mit meinen Patienten in einer anderen Form und würde zu einem Gegenmodell raten. Ich schaue mir eine zurückliegende Phase mit meinen Patienten noch mal an und wir legen dann Steine für Dinge, die schwierig waren oder belastet haben. Auf die andere Seite lege ich eine Perle unter der Fragestellung: „Was habe ich daraus gelernt? Was hat mir das Schwere gebracht?“ Diese Methode schafft viel eher einen Ausgleich. Denn ich glaube, dass sehr viel verborgenes Lernen in schweren Belastungserfahrungen steckt. Diese Erfahrungen suchen wir uns nicht freiwillig aus. Die mögen wir alle nicht, aber es steckt die Chance darin, etwas daraus zu lernen und mitzunehmen. Meiner Ansicht nach hat jede Situation wie eine Münze zwei Seiten und ich kann mir die eine Seite anschauen oder die andere Seite anschauen.
ERF Online: Aber ich komme vielleicht auch an Stellen, wo ich merke: Da habe ich richtig Mist gebaut. Was mache ich dann?
Andrea Schwalb: Wenn ich derjenige bin, der einen Fehler gemacht hat und jemand anderen dadurch verletzt habe, gehört für mich dazu, das dem anderen gegenüber anzusprechen und das Gespräch mit ihm zu suchen. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, ein Stück Wiedergutmachung zu leisten. Ich würde diese Dinge Gott vor die Füße legen, mit ihm darüber verhandeln und das in Anspruch nehmen, was er uns zusagt: Nämlich, dass wir auch den größten Mist machen können und er uns trotzdem vergibt.
ERF Online: Manchmal fällt es trotzdem schwer, sich selbst zu vergeben. Was raten Sie in einer solchen Situation?
Andrea Schwalb: Meistens ist das ein Problem von Menschen, die sehr streng mit sich selbst sind. Sie können allen anderen vergeben, bloß sich selbst nicht. Häufig steht dahinter ein sehr strenges Bild davon, was ich leisten muss, die Vorstellung, dass ich eigentlich selbst perfekt werden muss. Und oft muss zunächst an dieser Vorstellung gearbeitet werden, damit ich lernen kann, mir selbst zu vergeben. Diese Menschen müssen annehmen lernen: „Wenn Gott mir vergibt, wenn der andere mir vergibt, darf ich auch selbst gnädig mit mir sein.“
Neue Ziele angehen
ERF Online: Es gibt ein Buch von Ben Furman, das heißt „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“. Würden Sie sagen, dass es auch nie zu spät ist, ein glückliches vergangenes Jahr zu haben?
Andrea Schwalb: Das würde ich durchaus so sagen. Ich habe Ben Furman letztes Jahr auf einem Kongress persönlich erlebt und war beeindruckt davon, wie er es schafft auch aus schwierigen Erfahrungen Lösungsansätze herauszuschälen. Und das kann ich durchaus machen. Das kann ich in jedem Jahr machen, in jeder noch so schwierigen Erfahrung steckt ein Ansatz, eine andere Lösung zu finden.
ERF Online: Wenn ich jetzt Rückschau gehalten habe, wie kann ich diese dann nutzen, damit sie für mich zur Tür in die Zukunft wird?
Andrea Schwalb: Es ist wichtig, das, was ich über mich selbst verstanden habe, in neue Ziele umzusetzen. Dann habe ich eine Chance, etwas zu verändern. Ich mache in der Regel mache keine guten Erfahrungen damit, zu viele Ziele zu entwerfen. Daher empfehle ich ein oder zwei Dinge anzugehen, nicht mehr. Wichtig ist auch verstanden zu haben, warum ich Dinge tue, wie ich sie tue. Dafür hilft mir der Rückblick und danach kann ich mir überlegen, wie Schritte in eine positivere Richtung aussehen können. Wenn ich zum Beispiel gemerkt habe: Ich schaffe es nicht weniger zu arbeiten, weil Leistung für mein Selbstwertgefühl so entscheidend wichtig ist, sollte der Vorsatz fürs neue Jahr nicht lauten: „Ich arbeite einfach weniger.“ Stattdessen muss ich mir überlegen, wie ich aus der Falle herauskomme, meinen Wert als Person an meiner Arbeit festzumachen. Vielleicht sind gezielte Zeiten, in denen ich mich zurückziehe und darüber nachdenke, hilfreicher, um innerlich zur Ruhe zu kommen, als nur zu sagen: „Ich mache drei Termine weniger in meinem Terminkalender.“
ERF Online: Wie kann ich mir selbst am ehesten treu bleiben, wenn ich jetzt die Ziele fürs nächste Jahr setze?
Andrea Schwalb: Ich halte es dabei für wichtig, nicht von der Bewunderung anderer abhängig zu sein. Wenn ich immer die positive Rückmeldung der anderen brauche, werde ich eigene Ziele nicht umsetzen, sondern versuchen, es allen recht zu machen. Damit bleibe ich nicht bei mir, sondern orientiere mich an anderen. Mich nicht abhängig zu machen gelingt aber nur, wenn ich mich innerlich geliebt, angenommen und wertvoll fühle. Von diesem Standpunkt aus kann ich Ziele entwickeln. Ich kann dann auch längerfristige Ziele machen, die ich für das nächste Jahr in kleinere Schritte herunterbreche. Wenn ich in fünf Jahren eine Sache gerne erreicht haben möchte, kann ich mich fragen: Was muss ich im nächsten Jahr dafür tun, damit ich in fünf Jahren an diesem Ziel sein kann? Manchmal hilft es sich Dinge bewusst einzuplanen. Wenn ich zum Beispiel merke, dass ich mehr Zeit brauche, um mit Gott ins Reine kommen, kann es hilfreich sein, sich dafür mehrere Wochenenden zu blocken. Denn manche Dinge ergeben sich nicht automatisch im Alltag, sondern ich muss mir Raum dafür schaffen.
ERF Online: Vielen Dank für das Gespräch.
Den ersten Teil des Interviews finden Sie hier. Die ganze Sendung „Rückschau – Tür in die Zukunft“ mit Andrea Schwalb können Sie sich hier anhören.
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