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© Priscilla du Preez / unsplash.com

27.11.2021 / Theologie / Lesezeit: ~ 15 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Verehrt, geliebt, umstritten

Bibel und Kirche – das Verhältnis war nie einfach. Was lernen Christen daraus?

Die Bibel hat die westliche Kultur in den vergangenen Jahrhunderten maßgeblich geprägt. Umgekehrt war sie selbst ebenfalls immer wieder Gegenstand von theologischen Diskussionen, heftigen kirchlichen Auseinandersetzungen und nicht zuletzt auch wissenschaftlicher Forschung.

Prof. em. Dr. Armin Sierszyn (Foto:: STH Basel)
Prof. em. Dr. Armin Sierszyn (Foto: STH Basel)

Bis heute hat diese wechselseitige Geschichte nicht aufgehört. Grund genug, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und zu überlegen, was Christen aus 2.000 Jahren Kirchengeschichte über den Umgang und das Verständnis der Heiligen Schrift lernen können. Ein Interview mit dem Kirchengeschichtler Prof. em. Dr. Armin Sierszyn.
 

ERF: Die ersten Christen hatten keine Bibel, wie wir sie heute kennen. Die Schriften des Neuen Testamentes sind erst im Laufe des ersten Jahrhunderts entstanden. Wie kam es, dass das Neue Testament für die Christen schließlich gleichberechtigt mit dem Alten Testament auf einer Stufe steht?

Armin Sierszyn: Die ersten Christen kannten das Alten Testament, das auch die Bibel von Jesus gewesen ist. Natürlich hatte damals nicht jeder Christ ein Altes Testament bei sich zu Hause. Aber in den Gemeinden und bei den Aposteln, Propheten und Lehrern war das Alte Testament bekannt und oft auch tatsächlich in Form von Schriftrollen vorhanden.

Matthäus oder Johannes, die Jesus persönlich erlebt haben, aber auch Paulus – sie kannten Teile oder das ganze Alte Testament mehr oder weniger auswendig. Ihre neutestamentlichen Schriften sind besonders stark von alttestamentlichen Zitaten oder Textstellen durchsetzt.

Um zu verstehen, warum die Schriften des Neuen Testamentes neben dem Alten Testament als Gottes Wort anerkannt und verehrt werden, muss man folgende Zusammenhänge verstehen: Jesus hatte vor seiner Himmelfahrt seine Jünger in alle Länder ausgesandt und ihnen seine immerwährende Gegenwart und die Kraft des Heiligen Geistes zugesagt. Deshalb kann Paulus sagen, dass er den Christen in Korinth „an Christi statt“ predige (2.Korinther 5, 20).

Und den Thessalonichern schreibt er: „Ihr habt das Wort göttlicher Predigt nicht als Menschenwort, sondern als Gotteswort aufgenommen“ (1. Thessalonicher 2,13). Was die Apostel von Jesus Christus verkündigen, ist vom Heiligen Geist „gehaucht“, wie es das Neue Testament bezeugt. Der Heilige Geist spricht durch die Apostel zu den Gemeinden. Deswegen haben ihre Worte Vollmacht. Es ist grundlegendes Wort, es ist das lebendige Neue Testament der ersten Christengemeinden.

Die Bibel ist der Kirche sachlich und zeitlich vorgeordnet

ERF: Die frühe Kirche hat schließlich festgelegt, welche neutestamentliche Schriften zukünftig als verbindlich für Glauben und Leben gelten sollten. Wie sah der Weg von der Entstehung dieser Schriften bis hin zur Kanonisierung aus?

Armin Sierszyn: Das Neue Testament selbst oder auch der 1. Clemensbrief (um 96 n. Chr.) geben Hinweise, dass die Paulusbriefe schon im 1. Jahrhundert kopiert und gesammelt wurden. Das Johannesevangelium versteht sich selbst als Heilige Schrift. Das wird beispielsweise an der griechischen Formulierung „gegraptai“ („es steht geschrieben“) in Johannes 20,31 deutlich.

Der christliche Lehrer Justin, der um 150 n. Chr. Ephesus und Rom bestens kennt, bezeugt, dass unsere heutigen vier Evangelien im Gottesdienst als Gottes Wort vorgelesen werden. Irenäus von Lyon setzt sich in einem seiner Bücher im 2. Jahrhundert mit Gnostikern und frommen Schwärmern auseinander, die als Scheinapostel eigene Evangelien und Briefe verbreiten. In diesem Zusammenhang schreibt er, dass die Kirche unter dem Himmel immer vier Evangelien gehabt habe. 

Eine gleichzeitige Liste (um 180 n. Chr.), die man als Fragment in einer Mailänder Bibliothek wieder gefunden hat, beschreibt in groben Zügen unser heutiges Neues Testament, sie enthält am Rande aber auch einzelne umstrittene Bücher wie eine Petrusoffenbarung.

Der gelehrte ägyptische Schriftsteller Origenes unterscheidet um 220 n. Chr. drei Klassen von Schriften: Unwidersprochene (z.B. die vier Evangelien, 13 Paulusbriefe und die Johannesoffenbarung), teils angezweifelte Schriften (z.B. den Jakobusbrief, den Hebräerbrief oder den 2. Petrusbrief) und schließlich die Fälschungen (z.B. das Ägypter-Evangelium, das Matthias-Evangelium und viele gnostische Pseudo-Schriften unter dem Namen eines Apostels des 2. Jh.).

Im Jahr 367 n. Chr. fasst Bischof Athanasius von Alexandria unwidersprochen die Haltung der Ostkirche zusammen: Zu den Schriften des für die Kirche normativen Neuen Testaments gehören die 27 Bücher unseres heutigen Neuen Testaments. 15 Jahre später bestätigen auch große Synoden in Rom und Karthago diese Entscheidung.
 

ERF: Kann die Kirche überhaupt festlegen, was Heilige Schrift ist?

Armin Sierszyn: Nein, das kann und darf die Kirche aus sich selbst nicht tun. Es wäre verheerend, wenn sie sich das anmaßte. Nach dem Verständnis des Neuen Testamentes gründet sich die Kirche auf die Bibel und nicht etwa umgekehrt. Um in einem Bild aus dem Epheserbrief zu sprechen: Die christliche Gemeinde ist auf der Grundlage der Apostel und Propheten gebaut, und Jesus Christus ist der Eckstein des ganzen Gebäudes.

Das Neue Testament kann niemals das Produkt der Urkirche sein, denn Gottes Wort ist der Kirche zeitlich und sachlich vorgeordnet. Die 27 Bücher des Neuen Testamentes stehen nicht deshalb im Kanon, weil frühkirchliche Synoden dies so beschlossen haben, sondern weil sie sich kraft ihres Inhalts, ihrer Überlieferung und ihrer göttlichen Autorität in der Kirche durchgesetzt haben.

Natürlich hat die Kirche das Neue Testament überliefert. Sie tut dies bis heute. Doch diese Tradition ereignet sich nicht erst seit dem 4. Jahrhundert, sie geschieht von Anfang an. Die ersten Christen wissen, dass das Leben der Gemeinde seinen Ursprung im Wort der apostolischen und prophetischen Verkündigung hat. Dementsprechend werden ihre Schriften auch ehrfürchtig in der Gemeinde verlesen, gesammelt und verbreitet.

Unklarheiten bringen erst Fälschungen von Gnostikern und Bibelkritikern des 2. Jahrhunderts. In den Hauptgemeinden wie Antiochia, Ephesus, Korinth oder Rom insgesamt geht das Wissen jedoch nie verloren, welches die authentischen Schriften der Apostel sind.

Kirchliche Traditionen treten neben die Bibel

ERF: Lässt sich heute aus historischer Sicht feststellen, welche Rolle die heiligen Schriften für die Christen der ersten Jahrhunderte spielte und welche Auswirkungen das wiederum auf Kultur und Gesellschaft hatte?

Armin Sierszyn: Zunächst hatten die Schriften der Bibel keine Wirkung auf die Entwicklung der öffentlichen Kultur im Römischen Reich. Für die Mission und Ausbreitung des Christentums war vor allem die Lebensweise und das mündliche Zeugnis der Christen entscheidend. Die Bibel hatte also nur einen mittelbaren Einfluss.

Erst die konstantinische Wende im 4. Jahrhundert hat den Grund für eine christliche Kulturrevolution gelegt. Theologie und Kirche konnten nun das geistige, soziale und kulturelle Leben mehr und mehr mitgestalten. Kirchenväter wie Athanasius, Baslilius der Große, Ambrosius von Mailand und später Augustin spielten eine bedeutende Rolle.
 

ERF: Nachdem um 500 n. Chr. die ersten heftigen theologischen Auseinandersetzungen um grundsätzliche Fragen zur Person Jesu und zur Heiligen Schrift langsam abgeklungen waren, scheint die Theologie in ruhigeres Fahrwasser gekommen zu sein. Erst mit der Reformation im 16. Jahrhundert scheint das Ringen um die Rolle der Bibel neu aufzubrechen. Täuscht dieser Eindruck oder herrschte in den dazwischenliegenden Jahrhunderten tatsächlich Einigkeit darüber, wie man die Heilige Schrift zu verstehen hat?

Armin Sierszyn: Für das Mittelalter wurde vor allem Augustin (354-430 n. Chr.) mit seinen zahlreichen Bibelkommentaren und mit der Schrift „De doctrina christiana“ („Von der christlichen Lehre“) maßgebend. Im Tageslauf der Klöster wurden die Psalmen gesungen und gebetet. Bestimmende Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin oder der Prediger Bernhard von Clairvaux zweifelten nicht an der Autorität des biblischen Gotteswortes.

Problematisch ist hingegen, dass im Lauf der Zeit ein ganzer Wust kirchlicher Traditionen faktisch gleichwertig neben die Bibeloffenbarung tritt. Das hat schon im Spätmittelalter den Engländer John Wycliff und den Tschechen Jan Hus auf den Plan gerufen. Im 16. Jahrhundert fordern alle Reformatoren einmütig: „Sola Scriptura“ - „allein die Schrift“ soll gelten. Die katholische Kirche hingegen fordert im Konzil zu Trient (1545-1563), dass die Heilige Schrift und die mündliche Kirchentradition „mit gleicher Andacht und Frömmigkeit zu verehren“ seien.

ERF: Hat die Theologie sich in diesem Zeitraum schon auf eine Art und Weise mit den biblischen Schriften beschäftigt, die wir heute als wissenschaftlich bezeichnen würden?

Armin Sierszyn: Es kommt darauf an, was man unter „wissenschaftlich“ versteht. Schon Theologen wie Irenäus oder Augustinus haben die Bibel wissenschaftlich erforscht, wenn es um faktenbasierte Geschichtsforschung und biblische Theologie geht.

Aufbruch und Erstarrung im Protestantismus

ERF: Für die Reformatoren spielte die Beschäftigung mit der Bibel dann zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine ganz zentrale Frage. Luther formulierte das in dem eben schon erwähnten reformatorischen Grundsatz „Sola Scriptura“. Wie haben Luther, Zwingli, Calvin und Co. diesen Grundsatz verstanden?

Armin Sierszyn: Die Aussage „Allein die Schrift“ richtet sich bei den Reformatoren zunächst gegen die verlotterte Kirche des Spätmittelalters mit ihrem Ablasshandel usw. Von Augustin haben sie zudem den Grundsatz gelernt, dass die Schrift sich selbst auslegt. Das heißt, weniger gut verständliche Stellen der Bibel sind durch „helle“, besser verständliche Schriftzeugnisse zu interpretieren und auszulegen: Scriptura sui ipsius interpres („Die Schrift legt sich selbst aus“).

Dieses reformatorische Konzept wendet sich gegen die katholische Praxis und Lehre, dass der Papst kraft seines Lehramts oberster Ausleger der Schrift sei. Die Reformation lehnt außerdem eine sogenannte „natürliche Theologie“ ab: Kirchliche Überlieferung, Mystik, Natur, Verstand oder das Gewissen besitzen für die Reformatoren keine Offenbarungsqualität. Gott hat sich ein für alle Mal und ganz in Jesus Christus, dem Mensch gewordenen Wort Gottes, offenbart (Johannes 1).
 

ERF: Eine Folge der Reformation war das Aufkommen einer protestantischen Orthodoxie. Wie muss man sich diese Entwicklung vorstellen?

Armin Sierszyn: Im Jahrhundert nach der Reformation wurde für die evangelische Kirche das „Bleiben in der Wahrheit“ zur vordringlichen Aufgabe. Durch den Ausbau der reformatorischen Lehre sollte die Kirche innerlich gefestigt werden. Lehrformeln und Bekenntnisse sollten die Kirche befähigen, im Kampf der Konfessionen zu bestehen.

Trotzdem ist der evangelische Glaube 17. Jahrhundert nicht völlig unter einer Glocke von Rechtgläubigkeit erstarrt! Viele unserer schönsten Kirchenlieder stammen aus dieser Epoche. Das Kreuz, die Frage nach dem Leid und die Suche nach geistlichem Trost nehmen in der orthodoxen Verkündigung des 17. Jahrhunderts einen breiten Raum ein. „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“, heißt die erste Frage des Heidelberger Katechismus.

Die klassische Antwort beginnt folgendermaßen: „Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin.“ Diese Antwort umschreibt das Zentrum des reformierten Glaubens im Zeitalter der Orthodoxie. Auch die außerordentliche Hilfsbereitschaft der „orthodoxen“, also um Rechtgläubigkeit bemühten Kirchen gegenüber Tausenden von Hugenottenflüchtlingen ist ein leuchtendes Zeugnis dieser Zeit.

Auf der anderen Seite führt eine staatskirchlich verordnete Rechtgläubigkeit doch auch zur Erstarrung geistlichen Lebens, zum Kampf gegen Andersgläubige. Der Dreissigjährige Krieg mit allen seinen Schrecken, aber auch die zweitweise Verfolgung von Pietisten, Nonkonformisten und Hexen gehören ins 17. Jahrhundert. Hier wird der Boden bereitet für den Agnostizismus und Atheismus des europäischen Kontinents, sowie für die säkularen Weltanschauungen des 19. und 20. Jahrhunderts (Kommunismus und Nationalsozialismus).

Die historisch – kritische Methode entsteht

ERF: Im 18. Jahrhundert entsteht dann eine neue theologische Richtung, nämlich die historisch – kritische Methode der Bibelauslegung. Was ist der Unterschied zu Luthers „Sola Scritpura“ und was sind die Kernanliegen der historisch – kritischen Denkweise?

Armin Sierszyn: Die Entwicklung der historisch-kritischen Theologie – auch „liberale“ Theologie genannt - beginnt in der Spätzeit des hallischen Pietismus im 18. Jahrhundert. Ihr geistiger Vater ist der gefeierte Professor Johann Salomo Semler (1725-1791), der im Laufe der Zeit seinen pietistischen Glauben verliert und beinah als Agnostiker stirbt.

Semler folgt dem Geist seines aufgeklärten Zeitalters. Er unterwirft die Bibel dem historischen Bewusstsein der Vernunft. Maßgeblich für das Verständnis der Bibel werden jetzt die Absolutheit der menschlichen Erfahrung, die Logik und die beginnende Technisierung.

Martin Luther hat dagegen schon im 16. Jahrhundert eindringlich davor gewarnt, das Licht der Vernunft über das Wort der Bibel zu stellen. Er war sich bewusst, dass die Bibel ein Buch „sui generis“ ist, d. h. eine Schrift besonderer Art, die man nicht wie andere Bücher mit den üblichen wissenschaftlichen Mitteln erschließen kann.

Gottes Wort kann weder dem menschlichen Bewusstsein noch dem technischen Denken unterworfen werden. Luther ist davon überzeugt, dass die Bibel schweigt, wenn man so mit ihr umgeht – so wie Jesus auch geschwiegen hat, als er durch Herodes herausgefordert wurde.


ERF: Die neue Methode hat schließlich ihren Siegeszug zuerst in der evangelischen und später dann auch in der katholischen Theologie angetreten. Bis heute ist das Bibelverständnis dieser Methode für die universitäre Theologie absolut maßgebend. Worin liegt Ihrer Meinung nach ihr Verdienst und wo ihre Schwachpunkte?

Armin Sierszyn: Das moderne Bewusstsein der Aufklärung hat vor allem der Toleranz eine Bahn gebrochen. Eine Tugend, die im Grunde neutestamentlich ist. Das ist das zentrale Verdienst der Aufklärung. Für Theologie und Kirche haben zudem die so genannte Einleitungswissenschaft und der vertiefte Einblick in die Geschichte der Religionen den Blick für die besondere und vielstimmige Botschaft der biblischen Bücher geöffnet.

Leider hat sich die historisch-kritische Theologie zunehmend als aggressive Weltanschauung entpuppt. Der Theologe Ernst Troeltsch formulierte das so: „Wer ihr den kleinen Finger gibt, dem nimmt sie die ganze Hand“.  Anfänglich wurden nur nebensächliche Themen in Frage gestellt, wie zum Beispiel die Heilung eines Besessenen. Mit der Zeit wurden die Kriterien der historisch – kritischen Methode aber konsequent auf alle biblischen Aussagen angewandt.

Als Folge davon standen und stehen auf einmal Kernaussagen des christlichen Glaubens, wie die Auferstehung, auf dem Spiel. Wer die Bibel dem historisch-kritischen Denken unterwirft, bringt sie zum Schweigen und öffnet die Tür für den Einfluss gefährlicher Ersatzideologien. Ohne die biblische Kraft des Wortes Gottes stirbt die Kirche und verliert ihren positiven Einfluss auf die Gesellschaft.

Fundamentalismus und biblische Theologie

ERF: Als Gegenreaktion auf die liberale historisch – kritische Methode entstand in theologisch konservativen Kreisen Anfang des 20 Jahrhunderts der sogenannte „Fundamentalismus“. Was heute eher ein Schimpfwort ist, war ursprünglich ein positiver Begriff: Diese Bewegung – in der auch der Evangelikalismus beheimatet ist - wollte und will sich bewusst am Fundament der Bibel orientieren. Was hat diese Bewegung geleistet, und wo ist sie übers Ziel hinausgeschossen?

Armin Sierszyn: Der so genannte Fundamentalismus ist ursprünglich eine amerikanische Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Sie ist durch die Auseinandersetzung mit dem theologischen Liberalismus und seinen oben beschriebenen Folgen entstanden. Zu Recht weist diese theologische Strömung auf die unaufgebbaren Fundamente (engl. „fundamentals“) des christlichen Glaubens hin.

Problematisch ist jedoch die Tendenz dieser Bewegung, die Wahrheit der Bibel durch und durch mit Logik und Denkmethoden der modernen Naturwissenschaft zu beweisen. Dieses Herangehen ist ebenso untauglich wie die historisch-kritische Denkweise. Denn die Bibel lässt sich mit den Kräften von Verstand und Wissenschaft nicht restlos beweisen.

Paulus schreibt, dass die Weisheit der Welt die Weisheit Gottes nicht zu erkennen vermag. Deshalb, so Paulus weiter, hat es Gott gefallen, durch „törichte Predigt“ zu retten. Die christliche Botschaft mit ihrem Zentrum vom stellvertretenden Kreuzestod und der Auferstehung Jesu bleibt für den menschlichen Verstand eine Torheit, damit der Ruhm Gott allein gehört.
 

ERF: Sie plädieren für eine biblische Theologie. Wie sieht diese aus und worin liegt der Unterschied zur historisch – kritischen Denkweise?

Armin Sierszyn: Es geht dabei nicht um quantitative Unterschiede, etwa um die Frage, ob die historisch-kritische Methode etwas mehr oder weniger zur Abwendung kommen soll. Die Differenz ist qualitativ! Religionsgeschichtliche Vergleiche oder so genannte Einleitungsfragen werden nicht ausgeblendet. Sie werden bei einer biblischen Theologie aber anders beleuchtet und gewertet, was zu anderen Schlussfolgerungen führt.

Etwas salopp gesagt, geht es um die Frage, ob ich als Theologe meine Nasenspitze über oder unter dem Bibeltext halte. Daran entscheidet sich, ob die Kraft der Bibel selbst die Forschungsresultate bestimmt, oder ob mein autonomes Ich dies tut.  

Luther bezeichnet evangelische Theologie als Oratio (Gebet), Meditatio (Stillesein vor Gott) und Tentatio (Anfechtung). Das bedeutet, dass wir unser Wissen über Gott nie selbst in der Hand haben. Biblische Theologie bleibt Theologie unter dem Kreuz. Sie ist sich ihrer Fehlbarkeit und Vergebungsbedürftigkeit bewusst. Aber gerade darin ist sie zuversichtlich, freudig und für den persönlichen Glauben hilfreich.

Mit unterschiedlichen Bibelhaltungen umgehen

ERF: Bis heute spalten die beiden theologischen Richtungen Christen in ihrem persönlichen Verständnis der Bibel. Das kostet beide Lager Kraft und führt zu kircheninternen Diskussionen und oft auch zu unversöhnlichen Parteibildungen. Können Christen trotz gegensätzlichem Bibelverständnis Ihrer Erfahrung nach als Kirche gemeinsam unterwegs sein?

Armin Sierszyn: Auf weite Strecken ist dies möglich, wenn Christen sich stets neu vergegenwärtigen, dass die Liebe höher ist als unsere Erkenntnis über Gott. Denn diese Erkenntnis bleibt bruchstückhaft und begrenzt. Sie ist im besten Falle menschlich-perspektivisch und wird einmal überflüssig werden. Die Liebe aber bleibt, sie „glaubt alles, hofft alles und erduldet alles“ (1.Korinther 13).

Für das Leben in den Gemeinden kann nicht genug betont werden, dass wir berufen sind, einander zu dienen und zu ertragen. Endlose Spaltungen in den Gemeinden wegen Rechthaberei führen ins Elend. Gerade der Pietismus sollte hier durch seine Geschichte gemahnt sein.

Etwas anders liegen die Dinge im Bereich der theologischen Seminare und Hochschulen. Hier geht es zentral auch um die christliche Wahrheit und Lehre. Pfarrer und Gemeindeleiter haben die Aufgabe, Irrlehren zu erkennen und ihnen entgegenzutreten. Darum müssen sie in ihrer Ausbildung ein gutes Verständnis dessen entwickeln, was die Bibel lehrt. Die theologische Ausbildung ist daneben auch der Ort, wo um Positionen auf gute Art und Weise gestritten werden kann.

Eine ausgewogene Sicht der biblischen Lehre dann auch in der Gemeinde einzubringen, erfordert Erfahrung und viel Weisheit. Es gibt im Protestantismus zu viele Trennungen. Spaltungen haben ihren Grund nicht selten in mangelhafter Verkündigung.
 

ERF: Diese Trennung zwischen Gemeinde und Ausbildung klingt in der Theorie gut. In der Praxis scheint sie aber schwierig aufrecht zu erhalten. Viele Gemeinden erleben zurzeit eine ungeheure Spannung im Miteinander, weil die Mitglieder unterschiedliche Auffassungen zur Bibelhaltung oder zu ethischen Fragen haben. Was kann eine Gemeinde in einem solchen Fall machen, damit es nicht zur Spaltung kommt?

Armin Sierszyn: Wichtig ist, dass schon der verantwortliche Ausschuss für die Wahl des neuen Pfarrers oder Pastors die sensible Frage nach dem Bibelverständnis der zu wählenden Pfarrperson thematisiert. Kommt es später in der Gemeinde dennoch zum offenen Streit um die Bibel, dann ist das sehr bedauerlich. Nach meiner Erfahrung handelt es sich bei Pfarrern oder Pastoren, die sich als besonders „kritisch“ aufspielen, nicht selten um begabte und sensible Menschen, die um das Verständnis geistlicher Themen ringen oder die sich aufgrund persönlicher Lebensentscheidungen von der Denkweise der Bibel entfremdet haben. 

Wer im Dienst der Verkündigung steht, wird von allen Seiten durch den Zeitgeist angefochten. Deshalb ist es wichtig, dass gerade Leiter sich von der Gemeinde geliebt und getragen fühlen. Sie müssen in der Gewissheit arbeiten können, dass ihnen die Gemeinde bei einem Fehler nicht umgehend und perfide in den Rücken fällt.

Auf der anderen Seite müssen sich Pastoren der Macht ihrer Stellung und ihres Wortes bewusst sein - sie sind keine Götter. Sie sollten sich besonders bei umstrittenen Themen eine der Gemeinde angemessene, reife Zurückhaltung auferlegen. Tun sie es nicht – gerade gegenüber Jugendlichen und Kindern – so wird ihre Haltung in der Gemeinde verständlicherweise entsprechende Reaktionen auslösen. Bibelkritik auf der Kanzel führt zum Niedergang einer Gemeinde. Kommt es schliesslich zur Trennung, so gibt es meistens viele Verlierer.

Gottes Gnade trägt die Kirche

ERF: Was nehmen Sie persönlich aus 2000 Jahren Kirchengeschichte und damit auch aus einer langen Zeit an Ringen um das richtige Bibelverständnis mit für Ihren persönlichen Glauben?

Armin Sierszyn: Schon das Alte Testament zeigt, dass der Normalzustand des Gottesvolkes nicht der geistliche Aufschwung, sondern der Niedergang ist (vgl. z.B. die Bücher Richter oder Samuel). Die Zeiten der Erweckung um Gideon, Samuel, David, Josia u.a. bilden eher die Ausnahme und sind kurz. Wenn ich dazu damals und heute die Theologen betrachte, dann wird mir klar, dass wir „Schriftgelehrten“ wohl am stärksten der Vergebung bedürfen.

Ich staune, wie Gott seine Gemeinde trotz manchen Versagens der Theologie auf wundersame Weise seinem Ziel entgegenführt. Die Theologie ist zweifellos ein großes Geschenk für die Gemeinde, wenn sie ihren Dienst-Auftrag erfüllt. Zuerst und zuletzt ist es aber eine Folge von Gottes Gnade, Langmut und Treue, dass die Kirche immer noch existiert.


ERF: Vielen Dank für das Gespräch!
 

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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