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22.08.2023 / Essay / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Joachim Bär

Mut zum Selbst

Warum gesunde Selbstverwirklichung auch Gottesverwirklichung ist.

Neulich an der E-Gitarre. Ich versuche schon länger, einige Notenläufe schneller hinzubekommen und damit meine Musik abwechslungsreicher zu machen. Plötzlich war er da, der kreative Moment: Immer sauberer spielen meine Hände die Läufe, rechte und linke Hand sind synchron. Die Musik fließt. Ich entdecke neue Fähigkeiten in mir. Es sind kreative Möglichkeiten, die einerseits schon da waren, die ich andererseits aber erst einüben und entdecken musste.

Wer kreativ ist, ist auf der Suche nach dem, was in ihm oder ihr steckt. Nach dem, was sich ausdrücken will und dabei schon längst angelegt ist. Was für manche schon offenkundig ist und doch an die Oberfläche geholt werden möchte. Kreativität ist immer auch die Suche nach dem Einzigartigen in mir, meinem Beitrag in dieser Welt, meiner Signatur. Bei mir die Möglichkeiten an der Gitarre. Kurzum: Kreativ ist, wer sich selbst zur Entfaltung bringt, sich im wahrsten Sinne selbst verwirklicht.

Dieser Teil der Kreativität, die Selbstverwirklichung, hat einen schlechten Ruf. Teilweise zurecht. Für einige Menschen ist sie das erste Gebot der Stunde in einer individualistischen Zeit. Meine Wünsche, meine Ziele und Werte, für nichts anderes ist Raum. Die Bedürfnisse anderer, Gemeinsinn, Solidarität und Konsens? Nichts geht über meine Freiheit und meinen Weg. Es werde Ich!

Zu wenig des Guten

Die Selbstverwirklichung dieser Spielart ist auf sich selbst bezogen. Mit wenig Kontakt nach außen. Es sei denn, sie findet etwas, das ihr nützt, um sich selbst noch mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Sie ist im Kern egozentrisch, es ist zu viel des Guten.

Dieses Zuviel des Selbst schreckt manche Menschen zurecht ab, gerade Menschen mit feinen Antennen und einem guten Blick für andere und ihre Bedürfnisse. Mir sind einige feinsinnige Menschen bekannt, die dann lieber hinterm Berg halten und zu wenig von sich zeigen, auch an der Gitarre. Es ist wenig des Guten!

Diese Menschen stellen ihre eigenen und berechtigten Bedürfnisse hinten an. Sie schließen sich eher anderen Menschen an als ihren eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Sie setzen sich eher für andere ein als für sich selbst. Erfährt die Welt etwas von ihrem Selbst, von ihrem einzigartigen Beitrag? Zumindest zu wenig.

Ich glaube, von diesem Zuwenig an Selbstverwirklichung sind auch einige Christen betroffen. Das ist nur verständlich. Schließlich sind sie per Definition Nachfolger eines anderen. Christen folgen dem Beispiel von Jesus Christus. Was er gesagt, gedacht und gelebt hat, ist für Christen Vorbild, Maßstab und Modell, das im eigenen Leben nach-gelebt werden soll.

Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief die Christen in Galatien: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Galater 2,20). Johannes der Täufer beschreibt seine Existenz so: „Er (Jesus) muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3,30), ein beliebtes Motiv einiger Christen.

Auch im Alten Testament lädt mich ein Psalmbeter dazu ein, Gott die Führung im eigenen Leben zu überlassen und gelassen auf sein Tun zu warten (vgl. Psalm 37,5.7). Auch da bleibt auf den ersten Blick wenig Raum für das Ich.

Warum machte Gott nicht alle Menschen gleich?

Nichts gegen die Nachfolge, gegen die Hingabe und das Warten auf Gott. Ich glaube und erfahre, dass ein Leben als Christ lohnenswert und reichhaltig ist. Dennoch denke ich: Auch Christen tut eine gesunde Selbstverwirklichung gut. Alles andere wäre eine Verschwendung des Potenzials, das Gott in jeden Menschen gelegt hat.

Denn am Anfang hat Gott den Menschen geschaffen und damit den Grundstein gelegt für jedes Individuum und jegliche Kreativität. Er selbst war ungemein kreativ! Und sein Urteil über seine Schöpfung, zu der auch der Mensch gehört, lautet „sehr gut“ (1. Mose 1,31). In diesem „sehr gut“ liegt der Schatz.

Mir scheint, in der kreativen, geschaffenen Einzigartigkeit eines jeden Menschen steckt ein Auftrag und Sinn. Sonst hätte Gott alle Menschen gleich geschaffen. Deshalb kann ich der Welt etwas geben, was kein anderer geben kann. Etwas, was das Leben der Menschen um mich herum bereichert, sie inspiriert oder ihnen hilft. Das zeigt sich manchmal in kleinen Dingen und nur heute (ich spiele ein paar Töne auf der Gitarre und meiner Frau gefällt‘s). Manchmal zeigt sich solch ein Beitrag in einer großen Lebensaufgabe.

Ich habe einen Verdacht

Herauszufinden, welche Möglichkeiten Gott in mich gelegt hat, ist manchmal anstrengend. Es erschließt sich nicht immer gleich, was mir liegt und was ich besonders gut kann. Wie in meinem Beispiel mit der Gitarre. Meine einzigartigen Fähigkeiten wollen entdeckt werden, eingeübt, manchmal befreit werden aus einem Wirrwarr aus dem, was andere in mir sehen, aus ungünstigen Erfahrungen und falschen Prägungen. Das braucht Zeit, Offenheit und den Mut, zu mir selbst zu stehen und für mich Verantwortung zu übernehmen.

Diese Selbstverwirklichung ist gesund. Weil ich mich nicht nur um mich selbst drehe. Weil meine Selbstfindung eingebettet ist die wachsende Verbindung mit Gott, meinem Schöpfer. Je mehr ich Gott kennenlerne, desto mehr lerne ich mich kennen. Und umgekehrt. Es gibt da nicht zu wenig und nicht zu viel. Ich weiß um meinen Wert, meinen einzigartigen Auftrag – und sehe gleichzeitig und dankbar Gottes Kreativität in mir am Werk.

Damit ist diese Selbstverwirklichung auch eine Gottesverwirklichung: Es wird real, was Gott in mich, sein Gegenüber, gelegt hat. Auch auf diese Weise kann Gott größer in mir werden (siehe Johannes 3,30). Weil meine Kreativität, die seiner kreativen Schöpferkraft folgt, zum Vorschein kommt.

Ich habe den Verdacht, das könnte eine der schönsten Formen der Nachfolge sein.
 

 Joachim Bär

Joachim Bär

Joachim Bär war Unit Lead von erf.de und hat die übergreifenden Themen der redaktionellen Angebote des ERF koordiniert. Er ist Theologe und Redakteur, verheiratet und hat zwei Kinder.

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Magdalena M. /

Sehr guter Beitrag, Herr Bär!! Sie sprechen mir aus dem Herzen! Leider wird man vom Umfeld oft nicht so bestärkt seine kreativen (vielleicht sogar überdurchschnittlichen!!) Gaben auch zu leben und mehr

Nelli B. /

Starker Artikel! Danke Joachim. Kreativität ist ein Geschenk von Gott, die nur dann fließen kann, wenn wir ihren Spuren folgen. Es ist gut, wenn wir nach ihr buddeln, Raum schaffen und sie zulassen.

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