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© Bild: Berliner Stadtmission

25.12.2009 / Interview / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Simon Ennulat

"Den Menschen fehlt Familienwärme."

Von November bis März fährt wieder der Kältebus der Berliner Stadtmission durch die Stadt - in diesem Jahr mit einer besonderen Mitfahrerin.

Seit fünfzehn Jahren fährt von November bis März der Kältebus durch die Nächte Berlins. Es handelt sich um eine Initiative der Berliner Stadtmission, die obdachlose Menschen dazu einlädt, mit dem Bus in eine Notübernachtung gefahren zu werden. Anlass, das Angebot ins Leben zu rufen, war der Erfrierungstod eines Obdachlosen vor 15 Jahren. Seitdem ist die Vision der Initiative: Es darf keinen zweiten Toten in Berlin durch Erfrierung geben. ERF.de hat mit dem diesjährigen Busfahrer, Artur Darga, über seine Einsätze und seine Mitfahrerin Tikwa gesprochen.


ERF.de: Herr Darga, wie sind Sie dazu gekommen, Kältebusfahrer zu werden?
Artur Darga: Ich habe mich schon seit drei Jahren beworben, als Kältebusfaher zu arbeiten und ich bin durch meinen Freund Woflgang dazu gekommen. Er ist ehemaliger Kältebusfahrer. Wir haben uns bei Teen Challenge kennengelernt, da habe ich vier Jahre lang eine Therapie gemacht und später im Streetworkbereich gearbeitet. Durch diesen Kontakt bin ich dann zum Kältebus gekommen.

ERF.de: Bei den Nachteinsätzen begleitet Sie die Golden Retriever-Dame Tikwa. Welche Rolle spielt sie bei den Nachteinsätzen?
Artur Darga: In erster Linie dient Tikwa als Gesprächsaufhänger. Durch sie ist es möglich, mit Leuten schneller ins Gespräch zu kommen. Oft werde ich dann gefragt: „Oh, was ist das für ein Hund? Wie alt ist sie?“ Sehr oft kommt durch Tikwa der erste Kontakt mit Menschen zustande. Das heißt, die Leute begrüßen erstmal den Hund, streicheln ihn und dann kommen wir ins Gespräch.

ERF.de: Kommt es oft vor, dass sich Leute nicht ansprechen lassen?
Artur Darga: Es kommt eigentlich nicht oft vor, da ich lange dran bleibe und entweder selbst oder durch Tikwa versuche, ins Gespräch zu kommen – ich habe also immer Gesprächsstoff. Ob die Leute dann mitfahren, ist eine andere Frage.

Es gibt bestimmte Gäste, die ich schon länger kenne, die nie mitkommen. Es kann sein, dass es mit Klaustrophobie oder Berührungsängsten zusammenhängt, jedenfalls haben sie irgendwie Angst, mit zu einer Notübernachtung zu fahren. In der Regel sind es jedoch psychische Störungen. Diejenigen aber, die alkoholisiert sind, kommen meistens mit.

ERF.de: Was war bisher Ihr schönstes Erlebnis bei den diesjährigen Kältebusfahrten?
Artur Darga: Das für mich schönste Erlebnis war, als ich vor allem durch Tikwa eine Frau von der nassen Straße wegholen konnte. Das war für mich ein super Erlebnis - so etwas habe ich eigentlich noch nie erlebt, dass ein Mensch einem Hund schneller Vertrauen schenkt als einem anderen Menschen. Das war schön zu sehen, auch wenn die Geschichte eigentlich traurig ist.

ERF.de: Menschen mit einem einfacheren Job können nach Feierabend von ihrer Arbeit einfach abschalten – wie nahe gehen Ihnen die Geschichten, die Sie erleben?
Artur Darga: Natürlich geht es mir sehr nahe. Einmal habe ich zum Beispiel ein paar Leute zur Therapie gebracht, hier am Rande Berlins. Und das beschäftigt mich natürlich die ganze Zeit - auch zu Hause. Ich denke an die Leute. Ich versuche mich auch in meiner freien Zeit darum zu kümmern und sie weiter zu betreuen.

Ich habe zum Beispiel ein Pärchen im Park, das dort seit einem Jahr und vier Monaten wohnt. Ich versuche immer wieder, sie von dort wegzubringen und frage andere Leute, was man tun kann. Ich suche also schon seit längerem nach einer Lösung. Das ist also anders als bei einer normalen Arbeit. Ich bin nebenberuflich auch selbständig, habe einen Hausmeisterservice und mache ab und zu Mal- und Streicharbeiten. So etwas kann ich natürlich ausblenden. Meine Abeitsstunden sind um, dann komme ich nach Hause und denke nicht mehr daran.

Was den Kältebus betrifft, da unterhalte ich mich auch viel mit meiner Frau und wir versuchen herauszukriegen, warum manche nicht mitkommen wollen oder sich nicht helfen lassen und wie man das ändern kann. Außerdem stehe ich auch in Verbindung mit anderen Leuten, die mit ähnlich schwierigen Fällen arbeiten.

ERF.de: Ist die Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein oder ist Nachhaltigkeit in Ihrer Arbeit umsetzbar?
Artur Darga: Es ist letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ich möchte ihnen dazu kurz eine Geschichte erzählen: Es war ein Junge am Meer. Die Wellen haben immer wieder Seesterne an Land gespült. Der Junge ging den Strand entlang und warf die Seesterne zurück ins Wasser. Da kam ein reicher Mann zu ihm und sagte: „Junge, was machst du? Das bringt doch gar nichts. Guck mal, die Wellen spülen die Sterne immer wieder ans Land.“ Der Junge antwortete darauf: „Aber für die Seesterne hat es sich gelohnt, dass ich sie zurückgeschmissen habe.“

Also darum geht es uns auch. Mir geht es nicht um Zahlen, ich hasse Statistik. Ich will nicht irgendwo Kerben ins Holz schneiden, wieviele Leute von der Straße weggekommen sind. Es geht mir um folgendes: Ich habe selber Gottes Liebe am eigenen Leib erfahren. Ich war selber auf der Straße und ich weiß, dass die Arbeit in Berlin sehr wichtig ist - unabhängig davon, wievielen Menschen geholfen wird. Es ist einfach wichtig, dass die Menschen wissen, dass jemand auch sie auf dem Herzen hat, das bringt schon sehr viel und darum geht‘s mir.

ERF.de: Angenommen ein Millionär sagt zu Ihnen: Ihr macht eine gute Arbeit, ich gebe euch eine Million Euro – entscheidet selbst wie ihr sie einsetzt. Was würden Sie damit machen?
Artur Darga: Ich würde sofort ein Gebäude kaufen, wo ich soviele Leute wie möglich unterbringen könnte. Also eine Therapieeinrichtung oder so etwas in der Richtung, einfach damit die Leute ein Haus haben, wo sie wieder lernen können, wie eine Familie zu leben. Da sind sehr viele Menschen, die aus zerstörten Familienverhältnissen kommen und die wissen gar nicht mehr, was eine Familie ist oder wie es ist, in einer Familie zu leben.

Heute zum Beispiel habe ich wieder Leute besucht, die ich zur Therapie gebracht hatte und sie haben mir gesagt, sie fühlen sich schon ein Stück weit wie eine Familie, wie Geschwister. Und das fehlt den Menschen: die Familienwärme. Also wenn ich das entscheiden könnte, würde ich sofort einen Hof kaufen, wo man ein paar Leute unterbringen kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Ihr Kommentar

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Kommentare (5)

Gustav /

Hallo Artur, ich möchte Dir natürlich auch Gottes Segen für Deine Arbeit aussprechen, aber vielleicht ist das, was Du machst auch etwas für mich. Vielleicht will Gott mich benutzen, so einen Hof zu mehr

Andreas Barkow /

Sehr geehrte Damen und Herren!
Das ist ein sehr guter Artikel.
In Berlin gibt es circa 10.000 Obdachlose.
Als Krankenpfleger hospitierte ich für einen Tag im Dezember 2009 im Franziskanerkloster mehr

Hedy /

Gott segne Sie Artur Darga.Möge es doch noch viele, viele Menschen geben wie Sie. Danke ERF, für den schönen Bericht.

Gedi /

Der Artikel hat mir gut gefallen. Besonders die Aussage das es um jeden Einzelnen geht und nicht darum sich irgendwo Kerben ins Holz zu schneiden. Manche "missionarische" Gemeindesollte sich fragen mehr

HeHe /

Vielen Dank für diesen guten Artikel! So eine Initiative finde ich sehr, sehr gut. Gottes Segen für Ihre Arbeit!

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