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© Saeed Karimi / unsplash.com

01.06.2022 / Zum Schwerpunktthema / Lesezeit: ~ 2 min

Autor/-in: Susanne Ospelkaus

Ein Gegenüber!

Susanne Ospelkaus über die Identitätssuche in der Einsamkeit.

Freiwillige Einsamkeit

In Deutschland leben rund 80 Menschen als Eremit. Freiwillig suchen sie Einsamkeit, Stille und Erfüllung. Erfüllung in dem Wissen und Spüren: „Ich bin angekommen und angenommen!“

Wir alle möchten ankommen und angenommen sein. Wir brauchen ein Gegenüber, um uns heimisch und sicher zu fühlen.

Ich bin!

In den zwei Schöpfungsgeschichten aus Genesis werden unterschiedliche Gründe genannt, warum Gott Mann und Frau schuf. Erstens: Damit sich die Menschen vermehren. Zweitens: Damit der Mensch nicht alleine ist. Wir wurden nicht für die Einsamkeit geschaffen und das Alleinsein fällt uns schwer. Eremiten üben es und suchen ein göttliches Gegenüber. Alleinsein als Glaubensübung.

Als Gott sich Mose im brennenden Dornenbusch offenbarte, sagte er: „Ich bin.“

Was für ein merkwürdiger Satz. Er ist nicht vollständig. Der hebräische Text verlangt nach einem Anhängsel: Ich bin für Dich! Ich bin Dir ein Gegenüber! Ich bin für Dich da!

In der Antike war der Gedanke an einen zugewandten Gott geradezu empörend; Götter thronen im Himmel und schleudern Blitze auf die Erde. Sie wandern weder durch die Wüste, noch entzünden sie einen Dornenbusch, um in der Menschheit ein Gegenüber zu suchen. Unglaublich!

Angeboren

Uns wurde ein immerwährendes Bedürfnis nach Gemeinschaft in die Seele gelegt. Mit der Geburt beginnt die Interaktion – berühren, anschauen, beobachten, bewegen und lautieren.

In den 1930er-Jahren forschte der Psychologe Wayne Dennis (Universität Virginia) zur kindlichen Entwicklung. Wie entwickelt sich ein Säugling, wenn es keine zärtliche Zuwendung bekommt? Der Forscher und seine Frau Marsena nahmen zwei 36 Tage alte Säuglinge in ihrem Haus auf. Dessen alleinerziehende Mutter handelte aus einer Not heraus. Nach 15 Monaten wurde die Forschung beendet und Dennis notierte: „Gefühlsregungen zurückzuhalten war nicht einfach, zumal die Subjekte sehr ausdrucksstark waren.“

Die Zwillinge lächelten und glucksten, wenn das Forscherehepaar sie versorgten. Sie griffen nach den Händen, die die Kinder nicht streicheln wollten. Die Zwillinge kamen anschließend in Obhut von Pflegefamilien. Die Beobachtungen des Forschers blieben ohne Resultate, denn das Experiment war viel zu kurz.

Für uns sind diese und viele andere Experimente aus vergangener Zeit erschreckend und abstoßend. Den Impuls, ein Kind zu berühren, konnte selbst Dennis nur mit viel Mühe unterdrücken.

Ein Gegenüber

Das Miteinander bringt in uns etwas zum Schwingen und wir wissen: Wir sind nicht für die Einsamkeit geschaffen.

Unser Sein und Fühlen werden von einem Gegenüber genährt, gespiegelt und geformt.

Eremiten üben die Discretio, die Fähigkeit sich nicht in der eigenen Gedankenwelt oder im Egoismus zu verlieren. Discretion, um in Gott ein Gegenüber zu haben, der nährt, spiegelt und formt.

Egal, ob wir als Single, Paar, Familie, Gemeinschaft oder Eremit leben, unsere Identität entfaltet sich mit einem Gegenüber. Schöpfer. Gott. J-H-W-H. Ich-bin-für-Dich!
 

 Susanne Ospelkaus

Susanne Ospelkaus

  |  Freie Mitarbeiterin

Susanne Ospelkaus, Jahrgang 1976, Mutter von zwei Söhnen. Sie ist gelernte Ergotherapeutin, arbeitet jetzt als Autorin und Dozentin für pflegerische und pädagogische Berufe. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hat sie wieder geheiratet und lebt mit ihrer Familie östlich von München.

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