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© Jeremiah Lawrence / unsplash.com

24.05.2021 / Andacht / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Katrin Faludi

Bitte nicht stören!

Warum Kinder bei Jesus nichts zu suchen haben.

Den ganzen Vormittag habe ich geputzt. Danach das Mittagessen vorbereitet und den ersten Erdbeerkuchen des Jahres gemacht. Der Mann hat derweil mit den Kindern getobt. Es ist Nachmittag, die Sonne scheint, der neue Liegestuhl im Garten lockt. Doch kaum habe ich es mir gemütlich gemacht, kräht mich die Vierjährige von der Seite an: „Mama, spielen wir Tiger? Ich bin der Tiger und du bist die Beute. Wenn ich brülle, musst du wegrennen. ROOOOAAAAAARRRR! … Orr, Mama, nicht totstellen!“

Der ganz normale Alltag mit Kindern eben. Und wie es nun mal so ist: Kinder nehmen keinerlei Rücksicht. Sie platzen plötzlich in irgendeine Situation rein, sind laut, sorgen für Wirbel. Wie oft saß ich im Homeoffice über einem Text, folgte einem besonders scheuen Reh von Gedanken, das mir immer wieder entwischte, und gerade, als ich es im Visier ha- „Mama, können wir was gucken? Und Süßigkeiten? Wann bist du da fertig, Mama? Machen wir mal wieder Popcorn? Wann kommt Papa? Warum haben Regenwürmer keine Beine?“ -be, ist es auch schon wieder auf und davon.

Mama, wann ist der Mann da fertig?

Und nun stellen Sie sich mal folgende Szene vor: Jesus, der große Meister, sitzt predigend auf einem Felsen, umringt von Zuhörern, die begierig an seinen Lippen hängen. Die Jünger stehen wie die Türsteher ringsherum und achten darauf, dass der Meister nicht gestört wird, während er Perlen göttlicher Weisheit von sich gibt.

Heute hat es seine Predigt wieder einmal besonders in sich. „Denn die Stolzen“, sagt Jesus gerade mit Nachdruck in der Stimme, „werden gedemütigt, die Demütigen aber werden geehrt werden.“ Toller Satz, finden die Jünger. Müsste eigentlich mal jemand aufschreiben! Denn in der Zuhörermenge befinden sich so einige Leute, die sich das mal hinter die Ohren schreiben könnten.

Plötzlich kräht ein helles Stimmchen aus den hinteren Reihen: „Mama, wann ist der Mann da fertig? Mir ist langweilig!“. „Ich hab Durst!“, jammert ein weiteres Stimmchen. „Fang mich!“, krakeelt ein anderes. Ein Kind wuselt durch die Reihen der Erwachsenen, ein anderes nimmt die Verfolgung auf. „Ätsch, du kriegst mich nicht!“ Schon ist ein wildes Fangenspiel im Gange. „Psssst!“, machen die Jünger empört. Gerade jetzt, wo Jesus bei einem seiner Lieblingsthemen angelangt ist, müssen diese ungezogenen Rotznasen dazwischenfunken! Haben die denn keinen Respekt vor dem Meister?

Da Jesus gerade nicht zu Wort kommt, nutzt er die Pause, um Menschen zu segnen. Viele kommen nach vorne und er legt ihnen die Hände auf. Auch ein paar Eltern nutzen die Gelegenheit. Sie schämen sich zwar ein wenig, weil ihre Kinder gerade den Rabbi unterbrochen haben, aber dennoch schieben einige von ihnen ihre Kinder in seine Richtung, in der Hoffnung, dass auch ein kleiner Segen für sie abfällt. Da schwillt den Jüngern der Kamm. Drei von vier Evangelien berichten übereinstimmend:

„Die Jünger wiesen sie ab“ (Markus 10,13).
„Die Jünger fuhren die Leute an, sie nicht zu stören“ (Matthäus 19,13).
„Die Jünger fuhren die Leute an, sie nicht zu belästigen“ (Lukas 18,15).
 

Es kann doch nicht sein, dass Jesus beim Predigen unterbrochen wird, nur weil ein paar Kinder auftauchen, die davon noch nichts verstehen! Was wollen die Eltern mit den Kleinen hier überhaupt? Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr! Sollen die ihren Bälgern erst mal Rücksicht und Manieren beibringen, bevor sie den Retter behelligen!

So stelle ich mir die Logik dahinter vor. Natürlich wissen wir nicht, wie genau diese Szene abgelaufen ist. Die Bibel schildert nur, wie Eltern nach einer Predigt ihre Kinder zu Jesus bringen, damit er sie segnet, und die Jünger weisen die Familien barsch ab. Dabei lassen sie unmissverständlich durchblicken: Die Kinder sind im Augenblick nicht erwünscht. Sie stören. Sie sind lästig. Jesus hat keine Zeit für so was!

Solidarität für Kinder?

Ich gebe zu, ich kann die Jünger an dieser Stelle schon ein bisschen verstehen. Jesus hat ja wirklich eine Menge wichtiger Dinge zu tun. So sehr Kinder auch Zukunft und Hoffnungsträger sind, in der Gegenwart können sie anstrengend sein und oft passen sie mit ihrer Quirligkeit nicht zum Ernst der Situation. Insofern: Nachvollziehbar, dass die Jünger genervt sind.

Auch in unserer heutigen Gesellschaft gelten Kinder als Zukunft und Hoffnungsträger (synonym mit „Verbraucher“ und „Steuerzahler von morgen“). Im Futur wird von ihnen sehr wertschätzend gesprochen. Im Präsens hingegen sind sie auch gerne mal „Quälgeister“, „Störfaktoren“, „Karrierekiller“ und in Pandemiezeiten zudem „Virenschleudern“ und „Bazillenmutterschiffe“. Kinder stören. Kinder sind im Weg. Kinder sollen gefälligst rücksichtsvoll sein und Respekt vor den Älteren haben. (Umgekehrt wird es nicht immer ganz so eng gesehen.)

Zurzeit kommt noch eine weitere Komponente hinzu: Kinder haben sich solidarisch mit den Älteren zu verhalten, um deren Wohlergehen zu sichern. Sie selbst erkranken kaum schwer an Covid-19, daher werden sie zu Solidarmaßnahmen gezwungen, die ihr eigenes Wohlergehen eng in die Schranken weisen. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Natürlich ist es wichtig und richtig, diejenigen zu schützen, die am stärksten von der Krankheit bedroht sind.

Doch darüber darf nicht vergessen werden, welche Konsequenzen das für jene hat, denen die Einschränkungen das meiste abverlangen: Kinder bewegen sich weniger und legen an Gewicht zu, psychische Probleme und Entwicklungsdefizite häufen sich, viele Kinder haben Lernrückstände, sie können nicht schwimmen lernen, die Zahl der Kinder, die unter häuslicher Gewalt und Missbrauch leiden, wächst usw.

Bisher habe ich solidarisches Handeln für etwas weitgehend Freiwilliges gehalten. Durch den Entzug gewisser Grundrechte werden wir derzeit alle dazu gezwungen und das aus nachvollziehbaren Gründen. Kinder und Jugendliche zahlen für diese erzwungene Solidarität aus meiner Sicht jedoch einen unverhältnismäßig hohen Preis. Während der Pandemie geht es nämlich stets um das Wohlbefinden derjenigen mit der Entscheidungsmacht, die vom Virus unmittelbar bedroht sind.

Von denjenigen, die nicht entscheiden können, wird ganz selbstverständlich erwartet, dass sie ihr eigenes Wohlbefinden opfern. Welche Bedrohung das für ihre körperliche und seelische Gesundheit auf lange Sicht bedeutet, spielt kaum eine Rolle. Sonst hätte es im vergangenen Jahr vielleicht kreativere und pragmatischere Lösungen für Schulen und Kindergärten gegeben als das fantasielose und nur scheinbar alternativlose „alles dicht machen“. Präsens schlägt Futur.

Irgendwann begann ich mich zu fragen: Wer solidarisiert sich eigentlich ernsthaft mit den Kindern, statt sie als „Pandemietreiber“ zu verunglimpfen und stets in die letzte Reihe zu stellen? Wer nimmt ernsthaft wahr, was sie gerade schultern? Für wen sind Kinder wirklich Zukunft und nicht nur Wahlkampfmaterial? Wer ist solidarisch mit den Jüngsten, die mit ihren Bedürfnissen und Wünschen plötzlich hereinplatzen? Die hier nichts zu suchen haben, weil sie nicht verstehen, dass doch gerade etwas sehr Ernsthaftes im Gange ist?

Als Jesus das sah, war er sehr verärgert über seine Jünger und sagte zu ihnen: „Lasst die Kinder zu mir kommen. Hindert sie nicht daran! Denn das Reich Gottes gehört Menschen wie ihnen. (Markus 10,13).

 Katrin Faludi

Katrin Faludi

  |  Redakteurin

In Offenbach geboren, mit Berliner Schnauze aufgewachsen. Hat Medienwissenschaft und Amerikanistik studiert, ist danach beim Radio hängengeblieben. Außerdem schreibt sie Bücher, liebt alles, was mit Sprache(n) und dem Norden zu tun hat und entspannt gerne beim Landkartengucken. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wohnt sie in Bad Vilbel.

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Kommentare (2)

Urö /

Moin Frau Faludi,
Sie haben alles geschrieben!!
Wir Großeltern kümmern uns verstärkt um die Enkel und die Kinder!!
Bleiben Sie gesund.

Brigitte S. /

Herzl. DANK. Ich bin sehr zum Nachdenken gekommen.

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