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18.12.2010 / Adventsgeschichten / Lesezeit: ~ 11 min

Autor/-in: André Trocmé

Von Engeln und Eseln: "Die Geschichte vom kleinen Engel, der nicht sang"

In einem kleinen französischen Dorf sind während des Zweiten Weltkrieges ganz besondere Weihnachtsgeschichten enstanden. Eine Lesereise

An den vier Adventwochenenden veröffentlichen wir jeweils eine Geschichte aus dem Buch "Von Engeln und Eseln: Geschichten nicht nur für Weihnachten". Es sind Geschichten, die den Kindern des kleinen Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt wurden, während Europa unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten litt. Die etwa 9.000 Bewohner des Dorfes haben in dieser Zeit fast 5.000 Flüchtlingen geholfen, darunter 3.500 Juden. Die Geschichte des reformierten Pastors André Trocmé enthalten immer wieder Anspielungen und Hinweise auf den Mut, den es vor allem in Zeiten von Terror und Tyrannei braucht. Das Buch ist im Neufeld-Verlag (5. Auflage) erschienen und kostet 12,90€. 


Die Geschichte vom kleinen Engel, der nicht sang

Es gab zu der Zeit in der Menge der himmlischen Heerscharen einen kleinen Engel. Er war schön, von der unwirklichen Schönheit der himmlischen Kreaturen, und seine Seele war klar wie ein Tautropfen. Darum schenkten ihm die anderen Engel, die Diener des Höchsten, ihr süßestes Lächeln und die unschuldigsten Liebkosungen.

Die Jüngsten, die als Läufer und Kuriere dienen und die ständig ihren Weg vom einen zum anderen Gestirn machen, um die Tageslosung weiterzugeben, riefen ihn von weitem, um mit ihm zu spielen. Die erwachsenen Engel, die die Herrschaft über eine Provinz des Himmels erhalten haben über Sonne, Nebel oder Gestirn, brachten ihm Blumen als Geschenk, die sie an fernen Gestaden gepflückt hatten. Und die Erzengel, die sich nur bei sehr seltenen Gelegenheiten weg begeben, weil sie sich immer in der Gegenwart des Herrn aufhalten, riefen ihn zu sich, um ihn auf ihren Knien zu schaukeln.

Doch es ist nicht gut, selbst für einen kleinen Engel, wenn man verwöhnt wird. Wir wissen zwar, dass der Böse keinen Zutritt zum Himmelreich hat, wo die Kinder Gottes gegen alle seine Angriffe geschützt sind; und doch war unser kleiner Engel durch die Liebkosungen launisch geworden. Und da es dort oben nicht üblich ist, jemanden zurechtzuweisen, hatte man dafür nur ein leichtes Lächeln.

Nun aber ertönte in der Nacht, als Jesus geboren wurde, ein großer Schrei im Himmel, und die Engel Gottes kamen aus den entlegensten Gegenden, um den Menschen auf der Erde die Weihnachtsbotschaft zu bringen. Es waren zwölf Legionen.

Sie kamen herab durch den Weltraum, und Judäa wurde hell durch ihre übernatürliche Klarheit. Die Hirten, die auf den Feldern lebten, sahen dieses große Licht, und es ertönte der unvergessliche Gesang:

"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden
bei den Menschen seines Wohlgefallens."

Niemals seither hat das Universum wieder solche Stimmen gehört. Die Engel, spirituelle Wesen, singen nicht nur mit dem Mund, sondern mit ihrem ganzen Körper, all ihren Gedanken, ihrer ganzen Seele. Sie singen voller Liebe, ohne Ermüdung, ohne Anstrengung; ihr ganzes Wesen tönt und vibriert vor Freude wie eine Geige.

Die Engel senkten sich noch weiter herab und lagerten sich auf der Erde, rings um den Stall von Bethlehem. Sie umgaben den heiligen Ort mit einem Wall von Schönheit und Harmonie. Einige konnten sogar in den Stall eintreten. Jesus ruhte in der Krippe. Die Hirten und die Weisen hatten sich genähert und knieten nieder, und die Engel vereinten sich mit ihnen. Alle Stimmen jubelten in Dankbarkeit gegenüber Gott.

Nur der kleine Engel in der ersten Reihe hielt seinen Mund geschlossen und schwieg. Er hatte beschlossen, nicht zu singen. Ja, aber ist der Mund nicht zum Lobe Gottes geschaffen worden? Wenn unsere Lippen sich öffnen, der Ruhm Gottes unser Herz erfüllt, hat das Böse keine Macht über uns. Doch wenn unsere Lippen sich an einem solch schönen Tag schließen ... und wenn wir auf der Erde sind ...

Und der Böse, der auf die geringste unserer Verfehlungen lauert, bemerkte den kleinen Engel, der nicht sang. Er drang sofort in sein Herz ein und öffnete ihm die Augen: Er zeigte ihm die Bescheidenheit der Krippe und die Verletzlichkeit des Kindes Jesus, gerade wie die der Kinder der Menschen. Er zeigte ihm Josef und Maria als arme, ungebildete Bauern. Und er ließ ihn die große Verehrung der Anbetenden lächerlich finden.

»Und wegen dieses Kindes«, dachte er, »macht man all diese Musik, all diese Geschenke, all diese Verehrung! Man behauptet wohl, es sei der Messias; und dabei ist er nicht einmal so schön wie ich. Und außerdem: Er hat Hunger, er hat Durst und er weint wie die kleinen Menschenkinder. Seit er geboren ist, beachtet mich niemand mehr; jeder wendet sich ihm zu.«

Es war die Eifersucht, die dem kleinen Engel diese bösen Gedanken eingab: Nein, aber nein, er konnte sich nicht über den Ruhm eines anderen Kindes freuen. Er wollte sich nicht mehr daran erinnern, dass das Kind in der Krippe der geliebte Sohn des Vaters war, und dass alle Kreatur im Himmel und auf Erden nur ins Leben gerufen wurde, um ihn zu loben.

Die Heilige Nacht ging zu Ende. Die Engel kehrten zurück in den Himmel. Und als ihr kleiner Begleiter ihnen mit einer instinktiven Bewegung folgen wollte, konnte er nicht, denn seine Flügel waren von seinen Schultern abgefallen. Er blieb allein in der Nacht zurück.

Als die Hirten bei Tagesanbruch den Stall verließen, fanden sie vor der Tür ein Kind in einem langen weißen Kleid, das zu frieren schien. Und weil ihr Herz an diesem Morgen voller Güte war, hüllten sie es ein und nahmen es mit, um einen Hirten aus ihm zu machen. Sie gaben ihm den Namen Tolac; das bedeutet »Würmchen«.

Die Hirten wurden jedoch nicht belohnt für ihre gute Gesinnung. Tolac war schön von Gestalt und sehr intelligent, aber er verachtete seine Adoptiveltern, die er ärmlich und grob fand. Er wollte nicht arbeiten. Sobald er halbwegs erwachsen war, ging er in die große Stadt, mit der Absicht, dort ein Fürst dieser Welt zu werden.

Wir werden hier nicht alle Etappen seines Lebens erzählen. Das wäre eine sehr lange und traurige Geschichte: In der Tat, je größer er wurde, desto mehr brachte ihn die Erinnerung an seine Herkunft dazu, die Menschen zu verachten, die er für unterlegen hielt.

Wenn er wenigstens akzeptiert hätte, ein Mensch wie die anderen zu sein, hätte ihn seine Intelligenz in die Lage versetzt, einer der ersten unter ihnen zu werden. Aber er fühlte sich einer anderen Rasse zugehörig. Alle seine Gedanken, seine Worte und Taten wurden von dem Kult bestimmt, den er mit sich selbst trieb. Seine Eifersucht auf alles, was ihn übertraf, war so unersättlich, dass er selbst nicht mehr von Gott sprechen hören konnte, ohne sich insgeheim zu ärgern. Der Kult, den man Gott entgegenbrachte, reizte seinen Stolz.

Als er erwachsen war, fuhr Tolac übers Meer, lernte Griechisch, besuchte Athen, Rom und Alexandria. Überall verschafften ihm sein Charme und sein Wissen Freunde. Die Erfolge, die er hatte, erweckten ihm Hoffnung auf die besten Stellen. Aber seine Unfähigkeit, sich mit etwas anderem als mit sich selbst zu beschäftigen, ließ bald alle Herzen sich von ihm abwenden. Er ärgerte und erbitterte sich deswegen und wenn seine Freunde ihn verließen, ging er irgendwo anders hin.

Da er durch die Wissenschaft nicht weitergekommen war, gab sich Tolac dem Genuss hin. Nach Judäa zurückgekehrt, erstaunte er seine Zeitgenossen durch den Prunk seines skandalösen Lebens. Sein Haus wurde zum Treffpunkt von Spöttern, denen er beibrachte, Gott zu lästern. Mit fünfunddreißig Jahren war sein Körper schon verbraucht. Erfüllt von einer wachsenden Wut gegen die Menschheit, versammelte er einige Verzweifelte um sich und wurde zum Straßenräuber. Er verschonte keinen Reisenden, nicht einmal Frauen und Kinder. Er drang am Sabbat in die Synagogen ein und schmähte Gott. Er schlug die Rabbiner und bemächtigte sich der Opfergaben und des geweihten Silbers. Seine Grausamkeit war so groß, dass jedermann ihn fürchtete. Die Juden wandten sich an Pontius Pilatus, dass er sie von ihm befreie.

Tolac wurde festgenommen und in Ketten nach Jerusalem geführt, wo der Landpfleger befahl, ihn zu kreuzigen. Am anderen Tag führte man ihn zur Schädelstätte, zusammen mit zwei anderen Verurteilten: einem Räuber wie er, und einem Patrioten aus Galiläa, der, so sagte man, für eine Revolte gegen Rom gepredigt hatte. Auf der Brust des letzteren hing eine ironische Schrift, die so lautete:

"Der König der Juden"

Tolac empfand zuerst für diesen Unglücksgenossen eine gewisse Sympathie, wurde aber bald angeekelt durch seine Mitleid erregende Haltung. Während die beiden Räuber mit erhobenem Haupt durch die törichte Menschenmenge marschierten, weinte der Galiläer, der unter der Last seines Kreuzes hinfiel, mit den Frauen und Kindern, die über ihn jammerten.

Die drei Männer wurden gekreuzigt. Die Marter des schrecklichen Durstes und des langsamen Zerreißens ihres Fleisches begann. Die Menge machte sich lustig über den unglücklichen König der Juden: »Er hat andere gerettet und kann sich selbst nicht helfen! Wenn er der König von Israel ist, so steige er herab von seinem Kreuz, und wir werden an ihn glauben! Wenn er Gott vertraut hat, soll Gott ihn jetzt befreien, wenn er ihn liebt!«

Tolac grinste und spitzte schon seinen Mund, um seine Beleidigungen den ihrigen hinzuzufügen, als der Schrei eines Vorübergehenden ihn davon abhielt: »Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz!«

»Wenn du Gottes Sohn bist ...?« Tolac wandte seinen Kopf dem Galiläer zu, und sein Blick eines gefallenen Engels erkannte sofort unter der Dornenkrone das Kind von Bethlehem, den Sohn Gottes!

Da erhob sich sein Herz in triumphierendem Hass: »Ah, da bist du ja, mein Rivale!«, sagte er zu sich selbst. »Du wolltest die Verehrung der ganzen Welt, du hast mir den Teil an Bewunderung genommen, der mir gebührte, du hast mich aus dem Paradies jagen lassen, du hast geglaubt, die Menschen werfen sich vor dir auf die Knie wie die Engel in der Heiligen Nacht! So weit kommt man, wenn man der Retter sein will! Aber auf Erden regiert nicht Gott, sondern der Böse! Du bist besiegt. Ich habe die Genugtuung, zu deiner Niederlage beigetragen zu haben und sterbend dem Verlust deiner Krone zuzusehen. Deine Schande ist die Erniedrigung Gottes selbst. Ich werde verschwinden, aber ich ziehe dich mit mir ins Nichts!«

Als wenn er die Worte gehört hätte, die Tolac bei sich gesprochen hatte, wandte Jesus seinen Kopf und betrachtete den Räuber. Tolac hielt diesen Blick stolz aus: Er war bereit zum Kampf. Er erwartete, dass Jesus mit Entrüstung auf seinen Hass antwortete. Er würde vielleicht harte Worte für ihn haben, aber Tolac würde sich nicht erniedrigen lassen!

Doch Jesus sagte nichts. Seine Augen waren äußerst traurig und sehr gütig. Sie schienen zu sagen: »Auch ich erkenne dich wieder. Ich weiß, wer du bist: der gefallene Engel von meiner Geburt. Du wolltest mich niederschlagen, und es ist dir gelungen. Deinetwegen bin ich hier,
wegen deiner Eifersucht und wegen der aller Menschen. Wegen deinem Verbrechen werde ich sterben.«

Aber seltsamerweise bot die Sprache der Augen Jesu Tolac keinerlei Gelegenheit zur Rache. Wenn Jesus zornig geworden wäre, hätte sich Tolac als der Stärkere gefühlt, er hätte sich gefreut, ihn auf sein Niveau heruntergezogen zu haben. Aber eine solche Milde hatte er nicht erwartet.

Und die Augen Jesu fuhren fort zu sprechen: »Ja, deinetwegen und für dich sterbe ich. Ich hätte dich zurückweisen können. Das ist es, was du wolltest, nicht wahr? Ich aber sage: Nein! Du wirst mich nicht daran hindern, dich zu lieben, du armer gefallener Engel. Ich bringe dir den Sieg der Liebe zurück, indem ich mein Leben für dich dahingebe.«

Und plötzlich wurde der glänzende, harte Blick Tolacs feucht von Tränen. Unter Jesu Augen senkte er den Kopf. In diesem Augenblick begann der andere Räuber, angestachelt durch die Menge, Jesus zu beschimpfen: »Bist du nun der Messias? Dann beweise es! Hilf dir selbst und uns!«

Tolac konnte es nicht ertragen, durch einen anderen denjenigen beschimpfen zu hören, der sich freiwillig für ihn erniedrigt hatte. Ohne schon zu verstehen, was in ihm vorging, richtete er den Kopf wieder auf, öffnete den Mund und fing an, mit lauter Stimme seinen neuen Freund zu verteidigen: »Fürchtest du Gott nicht einmal jetzt, kurz vor dem Tod?«

Und als er so mit seinem Mund Gott bekannte, den er so gehasst hatte, fand sich Tolac plötzlich von seiner Eifersucht befreit. Er erinnerte sich sogleich an das Lied, das er einst für die Heilige Nacht gelernt hatte, und fing an, die Strophen zu singen:

"Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden
bei den Menschen seines Wohlgefallens."

Es war gewiss nicht mehr die reine Stimme eines Kindes, noch die himmlische Stimme eines Engels, die da erschallte, sondern die raue Stimme eines Mannes, der sehr tief gefallen und dem Tode nahe war.

Es war sicher kein harmonischer Gesang, aber dennoch eine Hymne und ein Bekenntnis, abgelegt vor dem anderen Räuber. Und als Tolac die Weihnachtsstrophe beendet hatte, fügte er die Karfreitagsstrophe noch hinzu: »Wir hängen hier zurecht. Wir haben den Tod verdient. Der hier aber ist unschuldig; er hat nichts Böses getan.«

»Jesus hat nichts Böses getan!«, dachte Tolac. »Er ist ein Heiliger, und ich habe ihn zu Tode gebracht, indem ich mich an seinen Platz stellen wollte. O, wenn ich in der letzten Stunde versuchen könnte, etwas zu tun, um ihn zu befreien! Aber es ist zu spät. Jesus wird sterben, und ich auch. Gott ist dennoch besiegt!«

Der Blick Tolacs wandte sich Jesus zu, um wenigstens ein wenig Hoffnung zu finden, aber der Kopf des Heilands war nach vorne geneigt, und seine Augen schienen schon vom Tode verschleiert. Als auch das Leben Tolacs aus seinem Körper floh, und als der Schatten des Todes seine Seele und seinen Mund überfiel, der gläubiger war als sein Herz, bekannte er sich von neuem zum Erlöser und rief mit lauter Stimme: »Herr, denke an mich, wenn du in dein Königreich kommst!«

Jesu Lippen bewegten sich kaum, aber Tolac hörte deutlich seine Antwort: »Ich versichere dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.«

In diesem Augenblick erkannte Tolac, was er immer gewusst hatte, als er noch ein Engel war, und selbst, als er seinen Gott verleugnete.

»Die Liebe ist stärker als der Tod. Gott kann nicht untergehen. Der mir sein Leben gab, wird auferstehen. Durch ihn werde auch ich auferstehen.«

Und er ließ sich in den Tod hinübergleiten.
 

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Silvia K. /

Ich bin zutiefst dankbar für diese wunderbare, ergreifende Geschichte! Ich möchte Ihnen an dieser Stelle einmal danken für die vielen, tiefgründigen Erzählungen und Berichte. Von Herzen wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Christfest. In Jesu Verbundenheit

Horst Petri /

Herzlichen Dank für diese zu Herzen gehende Geschichte! Ihnen und allen Mitarbeitern des ERF eine gesegnete Weihnacht!
Horst Petri

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