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04.12.2010 / Adventsgeschichten / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: André Trocmé

Von Engeln und Eseln: "Nikodemus"

In einem kleinen französischen Dorf sind während des Zweiten Weltkrieges ganz besondere Weihnachtsgeschichten enstanden. Eine Lesereise

An den vier Adventwochenenden veröffentlichen wir jeweils eine Geschichte aus dem Buch "Von Engeln und Eseln: Geschichten nicht nur für Weihnachten". Es sind Geschichten, die den Kindern des kleinen Dorfes Chambon-sur-Lignon erzählt wurden, während Europa unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten litt. Die etwa 9.000 Bewohner des Dorfes haben in dieser Zeit fast 5.000 Flüchtlingen geholfen, darunter 3.500 Juden. Die Geschichte des reformierten Pastors André Trocmé enthalten immer wieder Anspielungen und Hinweise auf den Mut, den es vor allem in Zeiten von Terror und Tyrannei braucht. Das Buch ist im Neufeld-Verlag (5. Auflage) erschienen und kostet 12,90€. 


Nikodemus

»Rabbi Gamaliel! Rabbi Gamaliel!«

Eine Stimme weckte Rabbi Gamaliel, der sich soeben für die Nacht zurückgezogen hatte. Er stand auf und öffnete die Tür.

»Rabbi Gamaliel«, bat eine Frau, »kommen Sie schnell zu mir nach Hause. Ich glaube, mein Mann, Nikodemus, ist verrückt geworden! Er tut nichts als singen und weinen und wiederholt immer dasselbe: ›Meine Augen haben den König gesehen‹ und dann noch: ›Und ich hatte nichts als mein Elend.‹«

»Bleiben Sie nicht draußen stehen«, antwortete Gamaliel, »kommen Sie herein und erzählen Sie mir alles.«

Und das ist die Geschichte, welche die Frau des Nikodemus Rabbi Gamaliel erzählt hat:

»Sie wissen, Rabbi Gamaliel, dass Nikodemus, obwohl er noch jung ist – er ist erst dreißig Jahre alt –, als einer der fähigsten Schriftgelehrten angesehen wird, um die alten Prophezeiungen zu erklären. Nun hat vorgestern der König Herodes ihn mit seinen Kollegen von der großen Synagoge zu einer Beratung in den Palast gerufen.

›Sagt mir‹, fragte sie der König, ›wo soll, nach Aussagen der Heiligen Schrift, der Christus geboren werden?‹ – ›In Bethlehem in Judäa‹, antworteten die Schriftgelehrten einstimmig. Da riefen die drei Weisen aus dem Morgenland, die vor dem Thron des Herodes standen, und deren Besuch der Grund der Beratung war:

›Gehen wir also nach Bethlehem, denn wir sind gekommen, um dem neugeborenen König der Juden unsere Ehrerbietung zu erweisen; wir haben im Morgenland seinen Stern gesehen.‹

Mein Mann war also sehr erregt, als er aus dem Palast des Herodes zurückkam. Gestern weckte er mich früh am Morgen: ›Frau‹, sagte er zu mir, ›leg mir den schönen Mantel aus weißer Wolle zurecht, den du mir mit deinen eigenen Händen gewoben hast, und lass meinen kleinen grauen Esel satteln.‹

Dann steckte er die dreißig Silberstücke in seinen Beutel, die unser ganzes Vermögen sind.
›Auch ich muss gehen und dem neugeborenen König die Ehre erweisen‹, sagte er. Und er brach auf nach Bethlehem, ohne zu vergessen, ein Schwert gegen die Räuber mitzunehmen.

Nun aber, Rabbi Gamaliel, ist Nikodemus heute Abend ohne sein Schwert zurückgekommen; er hat auch den schönen weißen Mantel nicht mehr, den ich ihm gewoben hatte; er hat seinen kleinen grauen Esel verloren; seine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, unser ganzes Vermögen, ist verschwunden. Er zittert in seiner Tunika aus dünner Leinwand, die schmutzig und voller Staub ist, und die ihm als einziges Kleidungsstück noch geblieben ist. Indessen tut er nichts als singen. Ich glaube, er ist verrückt geworden.«

Rabbi Gamaliel begab sich zu Nikodemus und fand ihn, hin und her gehend, in einem Zustand der Ekstase, wie es seine Frau beschrieben hatte.

»Setz dich doch einen Augenblick«, sagte er zu ihm, »und erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.«
»Nun gut«, sagte Nikodemus, »hör zu: Gestern morgen, als ich Jerusalem verließ, durch die Pforte, die man das Dungtor nennt, wo sich die Baracken der Armen befinden, deren Beruf es ist, die Abfälle zu sortieren, da hielt mich ein Bettler an, der am Straßenrand kauerte:

›Mein guter Herr, geben Sie mir Ihren Mantel, ich friere.‹

Er schlotterte in der kalten Morgenluft. ›Ich kann dir nicht meinen schönen weißen Wollmantel geben, denn meine Frau hat ihn mit ihren eigenen Händen gewoben‹, antwortete ich ihm. ›Außerdem habe ich eine wichtige Mission zu erfüllen: Ich gehe nach Bethlehem, um den neugeborenen Messias zu begrüßen. Ich darf mit dir keine Zeit verlieren.‹

Aber als ich weiterging, kam mir das Wort des alten Propheten in den Sinn: Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! (Jesaja 58,7)

›Wie könnte ich vor dem von den Propheten angekündigten Messias erscheinen, wenn ich solchen Geboten nicht gehorche?‹, sagte ich mir. Und ohne Zeit zu haben, darüber nachzudenken, hatte ich dem Bettler den schönen weißen Wollmantel geschenkt, den meine Frau mit ihren eigenen Händen gewoben hatte. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.

Nun aber, als ich bei dem Brunnen von En Roguel ankam, sprang ein Räuber hervor und ergriff den Zügel meines Esels. ›Gib mir dein Geld‹, sagte er zu mir. – ›Ich würde es dir gerne überlassen‹, antwortete ich ihm, aber ich gehe nach Bethlehem, um es dem neugeborenen König der Juden zu schenken. Bist du nicht selbst einer von den Anhängern des Königs der Juden, der Israel befreien soll?‹

›Gewiss‹, antwortete er. ›Um seine Ankunft vorzubereiten, halte ich mich versteckt; aber du, Pharisäer, erzählst mir Geschichten, um mir zu entkommen; gib mir dein Geld, und zwar schnell.‹

Ich hätte versuchen können, weiterzugehen, wenn ich mein Schwert gezogen und diesen Mann geschlagen hätte; aber das Wort des Propheten Jesaja kam mir in den Sinn: Denn uns ist ein Kind geboren! Ein Sohn ist uns geschenkt! Er wird die Herrschaft übernehmen. Man nennt ihn ›Wunderbarer Ratgeber‹, ›Starker Gott‹, ›Ewiger Vater‹, ›Friedensfürst‹ (Jesaja 9,5). – ›Soll ich einen Mord begehen, um die Geburt des Friedensfürsten zu feiern?‹, sagte ich mir. Und ich übergab aus freiem Willen dem Räuber meine Börse, die dreißig Silberstücke enthielt, mein ganzes Vermögen. Es war nutzlos geworden, ebenso wie mein Schwert. Und ich setzte meinen Weg nach Bethlehem fort.

Nun aber, während mein kleiner grauer Esel fröhlich trabte und ich Bethlehem schon liegen sah, sprach mich ein Mann, der nur mühsam gehen konnte, an, als ich an ihm vorbei kam. ›Mein Herr‹, sagte er mit fremdländischem Akzent, ›ich komme von Damas und bin auf dem Weg nach Alexandria in Ägypten, wohin mein sterbender Vater mich rufen ließ. Leider sind meine Füße wund von den Steinen des Weges und verweigern mir den Dienst.

Leihen Sie mir Ihren grauen Esel. Ich werde ihn zurückgeben, wenn ich wiederkomme.‹ – ›Auch ich habe eine wichtige Mission zu erfüllen‹, antwortete ich ihm.
›Ich gehe nach Bethlehem, um die Geburt des Retters der Juden zu feiern, der soeben geboren ist.‹
›Der Retter der Juden geht mich nichts an, denn ich bin ein Fremdling‹, antwortete der Mann; ›außerdem ist Bethlehem so nah und Ägypten so weit.‹

Ich wollte weitergehen, als mir das Wort aus dem Psalm in den Sinn kam: Ich bin nun ein alter Mann; doch in meinem langen Leben traf ich niemanden, der Gott liebte und dennoch von ihm verlassen wurde. Auch seine Kinder mussten nie um Brot betteln. Im Gegenteil:
Immer konnte er schenken und ausleihen (Psalm 37,25– 26 a).

›Nun gut, nimm meinen grauen Esel‹, sagte ich zu dem Fremden. ›Ich bin Rabbi Nikodemus aus Jerusalem, du bringst ihn mir so schnell als möglich zurück.‹

Und so kam ich nach Bethlehem, aller meiner Güter beraubt, und nur mit einer einfachen Tunika aus Leinen bekleidet.«

»Und du hast den Messias gefunden?«, unterbrach ihn lebhaft Rabbi Gamaliel.

»Nicht sofort, Rabbi Gamaliel, nicht sofort! Denn ich musste zuerst lernen, wie es ist, arm zu sein. Mein erster Besuch war beim Leiter der Synagoge, den ich fragte:

›Wo ist der Messias, der soeben geboren ist?‹ Als er meine miserable Aufmachung sah, weigerte er sich, zu glauben, dass ich Rabbi Nikodemus aus Jerusalem sei. Er hielt mich für einen schlechten Spaßmacher und wies mich zur Tür hinaus. Ich ging nacheinander zu allen angesehenen Bürgern von Bethlehem, aber niemand nahm mich ernst. Man machte sich über mich lustig, man drohte mir, man jagte mich überall fort. Selbst der Zöllner, den ich aufsuchte, obwohl das Gesetz uns verbietet, mit diesen Leuten zu verkehren, die einen schlechten Lebenswandel haben, behandelte mich mit Verachtung. Und als die Nacht anbrach, klopfte ich an die Pforte einer Herberge.

›Nimm mich nur für eine einzige Nacht auf‹, bat ich den Wirt; ›ich bezahle dich später.‹ – ›Ein ehrlicher Mann reist nicht ohne Gepäck und ohne Geld‹, antwortete er, ›geh deiner Wege‹, und er hetzte die Hunde auf mich.

Ich schickte mich schon an, auf der Straße zu schlafen, als ein Mann an mir vorbeiging. An seinem starken Geruch erkannte ich, dass es einer jener Hirten war, die die Gewohnheit haben, im Stall mit den Schafen zu schlafen.

›Mann‹, sagte ich zu ihm mit bittender Stimme, ›kannst du mir ein Stück Brot geben und mich
für eine Nacht beherbergen? Ein Haufen Stroh genügt mir.‹ – ›Gewiss‹, antwortete der gute Mann mit warmer, bäuerlicher Stimme, ›aber nicht, bevor du mich zu dem Stall begleitet hast, wo das kleine Kind schläft, das vorgestern geboren ist. Jeden Abend gehen wir und bringen seinen Eltern etwas zu essen, armen Galiläern ohne Geld, die wegen der Volkszählung hierhergekommen sind. Übrigens sind uns während der Nachtwache Engel erschienen und haben uns versichert, dass dieses Kind der Messias ist. ›Und daran werdet ihr ihn erkennen‹,
haben sie uns gesagt: ›Das Kind liegt, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe!‹

Als er an dieser Stelle seiner Erzählung angelangt war, wurde Nikodemus von einer tiefen Rührung erfasst. Unter den erstaunten Augen des Rabbi Gamaliel fing er wieder an, kreuz und quer umherzulaufen, und wiederholte:

»Ich habe den König gesehen, und ich hatte nichts als mein Elend!«

Gamaliel unterbrach ihn mit einer gewissen Ungeduld. »Sag mir doch, wie war der König, Nikodemus?«


Von Engeln und Eseln: "Nikodemus - Teil 2" 

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Kommentare (1)

Dorothea /

Das ist wirklich eine wunderbare Geschichte!! Beruhen sie auch auf Wahrheit? Ist das alles genau so passiert oder sind es einfach nur erfundene Geschichten?? Sind die Geschichten anhand von Berichten entstanden?
Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen!!
Mit freundlichen Grüßen Dorothea

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