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© Yogendra Singh / unsplash.com

11.11.2010 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Katrin Faludi

Sklaverei im 21. Jahrhundert

Die Sklaverei wurde 1967 abgeschafft – offiziell. Die Inderin Pranitha Timothy erklärt, warum die Realität in ihrem Land anders aussieht. Ein Interview.

Auf dem 3. Internationalen Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt berichtet eine junge Frau, wie sie Sklaven aus den Fängen ihrer Besitzer rettet. Pranitha Timothy arbeitet mit International Justice Mission (IJM) für die Befreiung und Rehabilitierung von Sklaven in Indien.

 

ERF.de: Frau Timothy, in Deutschland ist es eher unbekannt, dass es in Indien noch Sklaven gibt. Können Sie mir sagen, wie viele Sklaven es in Indien bzw. weltweit gibt?

Pranitha Timothy: Es gibt verschiedenen Quellen, die unterschiedliche Zahlen nennen. National Geographic spricht von 27 Millionen Sklaven weltweit. Andere Agenturen gehen von 65 Millionen allein in Indien aus. Davon sind 10-15 Millionen Kinder. Wie man sieht, sind die Zahlen widersprüchlich. Trotzdem bleibt: Die Zahlen gehen in die Millionen. Darauf sollte die Welt schauen.
 

ERF.de: Wie sind die Lebensbedingungen der Sklaven?

Pranitha Timothy: Das ist unterschiedlich. Die Lebensbedingungen können wirklich entsetzlich sein. Wir haben schon fünf Familien in einem einzigen kleinen Raum eingeschlossen gesehen. Da kann man sich vorstellen, dass es kein Familienleben gibt. Und es gibt andere Einrichtungen, wo den Familien einzelne Räume gegeben werden. Aber auch diese sind extrem klein. Da gibt es keine Privatsphäre.
Besonders Frauen sind dann ausgeliefert, wenn sie sich baden oder auf die Toilette gehen müssen. Diese Zeit nutzen die Besitzer manchmal aus, um die Frauen zu missbrauchen. Ich habe auch Orte gesehen, an denen den Sklaven Toiletteneinrichtungen zur Verfügung gestellt wurden. Sie haben dann zwar Räume, aber das ist nicht genug.
 

ERF.de: Warum lassen die Menschen das mit sich machen? Könnten sie sich wehren?

Pranitha Timothy: Von außen sieht es so aus, als ob sie es dulden. Aber die Realität ist anders. Ihre Lebensumstände lassen Ihnen keine Wahl: Entweder sie gehen in die Sklaverei oder sie sterben an Hunger.
Sind sie einmal dort, bleiben sie auch, weil der Besitzer ihnen durch Schläge und andere Bestrafungen zeigt, welche Macht er hat. Zu sehen wie andere missbraucht werden, hält sie ebenfalls dort. Sie werden nicht gehen, bis jemand wie IJM kommt und sie informiert, ihnen ihre Rechte zeigt und ihnen deutlich macht, dass wir bei ihnen sind und für sie kämpfen. Bis dahin traut sich keiner auszubrechen.
 

ERF.de: Welche Gruppe von Menschen ist am meisten gefährdet, in die Sklaverei zu geraten?

Pranitha Timothy: Wir haben festgestellt, dass 99% von ihnen zu den Unberührbaren, den Dalits, gehören.
 

ERF.de: Gründet sich die Sklaverei also auf den hinduistischen Glauben?

Pranitha Timothy: Das ist eine Frage des Zwecks. Wenn die Sklavenhalter andere ausgrenzen, beherrschen und unterdrücken wollen, dann benutzen sie das Kastensystem als Anlass dafür. Auf der anderen Seite essen sie den Reis, den die Unberührbaren herstellen, benutzen die Frauen und denken dabei nicht an die Kasten. Sie benutzen das Kastensystem für ihre Zwecke.
 

ERF.de: Was sind die Sklavenhalter für Menschen?

Pranitha Timothy: Die Sklavenhalter sind ökonomisch besser gestellt. Viele von ihnen haben Beziehungen zur Politik, viele sind einflussreiche Leute. Deswegen haben sie auch keine Angst vor dem Gesetz.
Trotzdem setzt jede strafrechtliche Verfolgung und jede Verurteilung, die wir erreichen, ein Zeichen. Es zeigt den Besitzer, dass sie nicht länger selbstgefällig handeln können und nicht länger glauben brauchen, ihnen könne nichts passieren. Das Gesetz wird sie eines Tages einholen.
 

Bild: ERF Medien

ERF.de: Wie sieht die Befreiung der Sklaven ganz praktisch aus, wie gehen Sie vor?

Pranitha Timothy: International Justice Mission findet heraus, wo die Sklaven sind. Wir dokumentieren alles und bringen unser Material zur Regierung. Dann gehen wir zusammen mit der Regierung los und befreien die Menschen aus den Einrichtungen, z.B. aus Reis- oder Ziegelfabriken. Danach verfolgen wir die Täter strafrechtlich.

Meine Aufgabe in diesem Kreislauf ist die Rehabilitierung, wenn der Arbeiter körperlich, wirtschaftlich, psychisch und sozial beeinträchtigt ist. Dabei ist es einfacher, für eine Wohnung, Arbeit oder für medizinische Versorgung zu sorgen. Schwieriger ist es, die Menschen aus dem Denken der Gefangenschaft herauszuholen. Sie haben nie gelernt, in Freiheit zu leben und etwas selbstständig zu tun. Draußen ist es dann schwer für sie, ihr Familienleben zu managen, Hoffnung für die Zukunft zu haben oder von der Zukunft zu träumen. Das müssen wir ihnen beibringen.

Viele von ihnen wurden auch körperlich und sexuell missbraucht. Dann helfen wir ihnen dabei, dieses Trauma zu bewältigen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Dennoch konnten wir schon großartige Erfolge sehen. Wir haben aber auch die andere Seite kennen gelernt: Menschen, die sich aus Verzweiflung umbringen oder zurück in die Sklaverei gehen. Die Statistiken zeigen aber, dass 94-96% der Befreiten auch nach Jahren frei bleiben. Da wir nicht viel Unterstützung bekommen, brauchen wir solche Ergebnisse, um es immer wieder neu anzupacken.
 

ERF.de: Wie zeigen Sie den Menschen, die ihr Leben lang in der Sklaverei gelebt haben, was Würde ist? Oder dass es Grenzen gibt, die andere nicht übertreten dürfen?

Pranitha Timothy: Das ist eine große Herausforderung. Denn selbst im Prozess der Ermittlung und Befreiung werden sie nicht mit Würde behandelt. Geht man zur Regierung, bieten sie nur dir einen Stuhl an. Den Stuhl dem Sklaven zu überlassen, ist dir nicht erlaubt. Dann ist es an dir, ihnen Würde zu zeigen und zu sagen: Wenn er nicht auf dem Stuhl sitzen darf, werde ich auch nicht sitzen.

Zudem machen wir mit ihnen ein intensives Drei-Tage-Training. Ein Tag für einen medizinischen Check-up, an dem wir sie ins Krankenhaus bringen, in dem die Ärzte sehr nett sind und sich wirklich um die Patienten kümmern. Damit wollen wir den Prozess starten, in dem sie verstehen: Es gibt Menschen auf der Welt, die mich mit Würde behandeln.

Auch wir IJM-Mitarbeiter behandeln sie mit Liebe, Würde und Fürsorge, um ihnen zu zeigen, wie sie eigentlich behandelt werden sollten. Es beginnt damit, wie wir ihnen zuerst den Respekt zeigen und wie wir sie zuerst lieben.
Außerdem erklären wir ihnen ihre Rechte. Es braucht Jahre für sie, all das zu verstehen. Aber es ist ein Anfang.
 

ERF.de: Wie gelingt es Ihnen, die Besitzer rechtlich zu verfolgen und ins Gefängnis zu bringen?

Pranitha Timothy: Das war jahrelange harte Arbeit, weil man das System erst einmal verstehen musste. Von Fall zu Fall haben wir dazugelernt. Wenn wir heute zu einer Polizeistation gehen und wollen eine Anklage erheben, registrieren sie das auch. Am Anfang war das nicht so einfach. Da haben wir monatelang gekämpft, um eine einzige Anklage erheben zu können.
 

International Justice Mission (IJM) ist eine Menschenrechts-organisation, die sich für Opfer von gewaltsamer Unterdrückung einsetzt. Ziel ist es, Menschen aus der Sklaverei, Menschenhandel oder Zwangsprostitution zu befreien. Dafür arbeiten Anwälte, Sozialarbeiter und verdeckte Ermittler mit lokalen Behörden rund um den Globus zusammen. Mit einem Sitz in Tübingen ist IJM auch in Deutschland vertreten. Wenn Sie IJM unterstützen möchten, können Sie das sowohl durch ein Praktikum oder eine Mitgliedschaft tun als auch durch Spenden und Gebete.

ERF.de: Die internationale Öffentlichkeit nimmt mehr Kenntnis von der Sklaverei, als die indische. Bewirkt das Druck auf die indische Regierung?

Pranitha Timothy: Ich hoffe, - egal ob in den indischen oder den internationalen Medien - dass die Regierung reagiert und einige Schritte einleitet, um dieses System zu verändern. Dort, wo ich arbeite, habe ich viel Veränderung gesehen. Ich habe erlebt, wie die Regierung viel kooperativer wurde und selbst die Initiative ergriff. Das ist ermutigend. Aber es gibt bestimmte Teile des Landes, in denen sich die Regierung nicht um diese Fälle kümmern will.
 

ERF.de: In Europa gibt es viel Kleidung, die in Indien gefertigt wird. Stammt diese aus der Sklavenarbeit?

Pranitha Timothy: Es gibt sehr viele Güter, die von Sklaven hergestellt werden. Zwar kann ich nicht sagen, wie viele der Güter nach Indien und wie viele in andere Länder geliefert werden. Aber ich weiß, dass wenn andere Länder Stellung beziehen und keine Produkte mehr aus der Sklavenarbeit kaufen würden, dann würde das ein Zeichen setzen und eine Botschaft an die Firmen senden. Momentan gibt es leider nur wenige, die sich wirklich die Firmen und ihre Produktionsweisen ansehen und schauen, ob Sklavenarbeit benutzt wird oder nicht.
 

ERF.de: Was ist Ihre Motivation als Christ, diese Arbeit zu machen?

Pranitha Timothy: Meine Motivation kommt durch das, was Gott für mich getan hat. Er hat mich gerettet und mein Leben verändert. Es gab eine Zeit, in der ich die Person hasste, die ich geworden war. Ich wollte ein neues Leben und das fand ich in Christus. Er veränderte mein Leben von einer nutzlosen Person, die so hartherzig war und sich um niemanden in der Welt geschert hat. Er veränderte mein Herz, um Menschen zu lieben und ihnen zu dienen. Er gab mir eine Vision, für Gerechtigkeit zu kämpfen.
Körperlich bin ich schwach: Ich habe unter den Auswirkungen eines Gehirntumors zu leiden. Aber ich bin es nicht, die diese Arbeit tut. Gott ist meine Stärke und ich tue es, weil Gott mich leitet. Er ermutigt und motiviert mich für diese Arbeit.
 

ERF.de: Gibt es für Sie Möglichkeiten, mit den Menschen über Jesus zu sprechen?

Pranitha Timothy: Wir bewegen uns da auf sehr dünnem Eis. Wir sind in der Lage, sie zu befreien und ihnen Liebe zu zeigen. Das zu tun, was Christus für uns getan hat. Es ist aber schwierig, mit ihnen über Gott zu reden. Wenn wir weitermachen wollen, die Menschen zu befreien, können wir unseren Glauben in Worten nicht mitteilen. Aber wir können es ihnen durch unsere Taten zeigen, durch unsere Liebe und Fürsorge.

ERF.de: Vielen Dank für das Gespräch!

 Katrin Faludi

Katrin Faludi

  |  Redakteurin

In Offenbach geboren, mit Berliner Schnauze aufgewachsen. Hat Medienwissenschaft und Amerikanistik studiert, ist danach beim Radio hängengeblieben. Außerdem schreibt sie Bücher, liebt alles, was mit Sprache(n) und dem Norden zu tun hat und entspannt gerne beim Landkartengucken. Mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern wohnt sie in Bad Vilbel.

Ihr Kommentar

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Kommentare (2)

Marianne Dölker-Gruhler /

DANKE an die International Justice Mission und Danke an Frau Timothy und die anderen, die sich an dieser Stelle im Namen Jesu einsetzen! Möge Gott ihren Dienst segnen!

Konrad Bollmann /

Möge die Sklavenarbeit aufhören. Mögen die Beteiligten durch den Liebesdienst angerührt werden u. nach GOTT fragen!

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