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© Bild: privat

25.07.2009 / ERF International / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Susanna Tielmann

Vater eines ganz besonderen Kindes

Slawa Schewelew wird Vater einer Tochter mit Down-Syndrom. Die in der Ukraine übliche Praxis, das Kind abzugeben, lehnt er ab. Eine gute Entscheidung.

Meine Frau Olga und ich sitzen der Kinderärztin gegenüber. Sie versucht uns nicht anzuschauen, sucht irgendetwas in dem Stapel Papier auf ihrem Tisch. Mit einer unsicheren Stimme und immer noch ohne Blickkontakt fragt sie, ob wir unsere vor vier Tagen geborene Tochter abgeben werden.

Da ich nicht bei der Geburt dabei sein konnte, hatte ich das Baby gerade eben für ein paar Minuten zum ersten Mal gesehen. Abgeben? Wir sind geschockt. „Wie bitte? Unser Kind weggeben, auf das wir acht Jahre gewartet haben? Auf keinen Fall!“, antworte ich. „Sie ist nicht so wie alle anderen Kinder. Doch ich habe größten Respekt vor Eltern, die so ein Kind mit nach Hause nehmen wollen.“, sagt die Ärztin. Wir sind uns sicher:„Wir überlassen unser Kind nicht einfach so der staatlichen Fürsorge.“

Tag und Nacht im Internet recherchiert

Unsere kleine Prinzessin, auf die wir so lange gewartet haben, hat das Down-Syndrom. Menschen mit dieser Behinderung bekommt man in der Ukraine selten zu Gesicht. Meist werden sie ihrem sozialen Umfeld entzogen und in staatlichen Heimen für behinderte Kinder untergebracht. Die sind noch aus Sowjetzeiten in großer Zahl vorhanden. Weitere Besuche der Eltern im Heim sind nicht vorgesehen. Wer sein Kind abgibt, sagt sich endgültig von ihm los.

Paare, die gerade Eltern geworden sind, werden nur unzureichend über die Behinderung informiert. Meist besteht die ganze Aufklärung in dem Vorschlag, das Kind der staatlichen Obhut zu überlassen. Man legt den Eltern nahe, dass sie ohnehin mit so einem Kind nicht fertig werden. Ratlose Eltern werden noch tiefer verunsichert und willigen viel zu schnell ein, das Kind dem Staat zu überlassen, der weder Liebe noch wirkliche Fürsorge oder Ausbildung bietet. 

Nach zwei Wochen Krankenhaus bringe ich meine Frau und unsere kleine Alina nach Hause. Tag und Nacht habe ich im Internet recherchiert, was das Anderssein meiner Tochter wirklich bedeutet. Meiner Frau habe ich nicht alles von den furchterregenden Prognosen erzählt. Im Wohnzimmer lege ich mich aufs Sofa. Meine Frau legt mir das Baby auf den Bauch. Die kleinen Händchen fallen auf beiden Seiten herunter, als wollte Alina mich umarmen. Ihr Gesicht ist ganz nah bei meinem. Unsere Blicke treffen sich. Dieser ernste, konzentrierte Blick wird für immer in meiner Erinnerung bleiben.

Es muss weitergehen. Bloß wie?

In der ersten Zeit ist Alina viel krank. Und unsere Gefühle gleichen einer Achterbahnfahrt. Vor allem bei meiner Frau. Die Fragen quälen uns. Warum trifft es gerade uns? Während der gesamten Schwangerschaft haben wir für unser Kind gebetet, Alina in Gottes schützende Hände gegeben. Was haben wir falsch gemacht? Für welche Sünde werden wir bestraft? Warum haben wir ein behindertes Kind, wo doch so viele Alkoholiker in unserem Land gesunde haben dürfen? Warum spielt Gott mit uns dieses Spiel?

Unsere Lage wird eine große geistliche Herausforderung. Als Mitarbeiter von Trans World Radio (TWR) in der Ukraine haben wir viele Radiosendungen aufgenommen, um Menschen zu ermutigen. Jetzt sitzen wir selbst in einer Klemme. Die Sendungen müssen aber weitergehen. Bloß wie?

Ein Traum und ein Wunder

Es folgen einzelne Anrufe von der Entbindungsstation unseres Krankenhauses. Der erste, als Alina sechs Monate alt ist. Die Ärzte kennen uns mittlerweile gut und bitten uns, eine Mutter zu besuchen, die gerade einen Jungen mit dem Down-Syndrom entbunden hat. Sie will das Kind nicht nach Hause nehmen, will mit niemandem vom Krankenhauspersonal reden. Wir haben noch selbst mit unserem eigenen Schmerz und Fragen an Gott zu kämpfen. Meine Frau fasst sich jedoch ein Herz, nimmt ein kleines Album mit Fotos von Alina und macht sich auf den Weg ins Krankenhaus. Beim zweiten Versuch ist ein kurzer Besuch bei der Frau möglich. Olga träumt in der darauffolgenden Nacht von dem verlassenen Jungen, dessen Leben eigentlich ganz anders verlaufen sollte. Wir beten für ihn.
 

Familie Schewelew (Foto: privat)

Schon viel früher hätten wir gerne mit anderen Betroffenen Informationen ausgetauscht, Gefühle geteilt und uns gegenseitig geholfen. Aber wir kennen keine Familie mit einem Kind, das an dem Down-Syndrom leidet. Also fangen wir selbst an, Informationen zu sammeln, zu recherchieren und organisieren. Nach einem Jahr werden wir Mitglieder einer Gruppe Betroffener, die sich hin und wieder zu Vorträgen im örtlichen Krankenhaus trifft. Eines Tages kommt eine Frau auf uns zu und fragt, ob Olga sich an sie erinnern könnte? Sie war die Mutter des kleinen Jungen, für den wir gebetet hatten. Tatjana, so ihr Name berichtet: „Unser Kleiner ist schon 7 Monate alt. Wir haben es nicht übers Herz bringen können, ihn abzugeben und haben ihn sofort am nächsten Tag nach Hause geholt.“ Ein Wunder. Wir tauschen Adressen und Telefonnummern aus. In der Folgezeit entwickelt sich eine gute Freundschaft.

Zusammen weinen, den Schmerz verstehen

Die Sendungen für TWR Ukraine produzieren wir weiter. Manchmal müssen wir unter Tränen ein Lächeln vor dem Mikrophon aufsetzen - für die Hörer. Wir erzählen von Alina. Wir wissen, dass Hörer für uns beten. Es stellt sich heraus, dass Gott unsere Sendungen auf eine für uns überraschende Art und Weise gebraucht, um Hörer anzusprechen. Es kommen auf einmal bedeutend mehr Rückmeldungen per Post. Sie haben alle dieselbe Aussage: Unsere Sendungen haben Tiefgang, spenden Trost und geben Hilfe.

Heute, sechs Jahre später sind wir Mitglieder einer Selbsthilfegruppe für Kinder mit Down-Syndrom. Wir helfen uns gegenseitig, wir verstehen den Schmerz der anderen, besonders derer, die neu dazukommen. Wir weinen zusammen, machen gemeinsame Ausflüge mit unseren Kindern und treffen uns öfters sonntagnachmittags im Stadtzentrum.

Gott hat uns mittlerweile ein zweites Kind geschenkt. Einen gesunden Sohn. Und Olga ist dabei, ein Buch über unserer Geschichte mit Alina zu schreiben. „Einfach anders“ soll es heißen. Sie beschreibt darin als Mutter ihren Weg aus der Dunkelheit ins Licht. Unser Weg der Annahme von Alina, des uns anvertrauten Geschenkes Gottes, soll für Menschen mit der gleichen Herausforderung zur Hilfe werden.
 

Alina im Alter von drei Jahren (Foto: privat)

Ich schäme mich nicht!

Ich weiß, dass viele Eltern sich ihrer behinderten Kinder schämen, besonders die Väter. Gerade weil wir von den Meinungen anderer Menschen abhängig sind. Wie unser soziales Umfeld unsere Kinder wahrnimmt und aufnimmt, färbt auf unser Verhältnis zu ihnen ab. Diese Abhängigkeit ist oft schwer zu durchbrechen. Mir hat es geholfen, mich nicht abzuschotten. Wir haben heute viele Freunde und Bekannte, treffen uns oft privat mit anderen Eltern, deren Kinder am Down-Syndrom leiden. Und das Verlangen so zu sein, wie alle anderen - oder sogar besser -, angeben zu können mit dem, was das Kind schon alles kann - all das ist seit langem überwunden. Ich schäme mich meiner behinderten Tochter nicht.

Gerade nehme ich Alina auf den Arm und dimme das Licht im Zimmer. Sie beruhigt sich, während ich ihr Lieblingslied anstimme. So gut wie ich es eben kann. Sanft drücke ich ihren kleinen Körper an mich. Der letzte Liedvers hat sie ins Land ihrer Träume versetzt. Aber ich halte sie noch für einen Moment länger an mich gedrückt. Ich möchte so gerne, dass sie weiß, wie sehr ich sie liebe. Dass sie anders ist, wird für sie vielleicht nie zum Thema werden. Doch dass sie für mich etwas Besonderes ist, spürt sie schon jetzt ganz genau. Sie ist mein kleiner lächelnder Engel. Und ich bin der Vater eines ganz besonderen Kindes.

Slawa Schewelew ist Mitarbeiter von Trans World Radio in Charkow, Ukraine. Der Beitrag wurde von Susanna Tielmann aus verschiedenen Berichten zusammengestellt.
 

Ihr Kommentar

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Kommentare (10)

Steffen Haner /

Danke, für diesen ergreifenden Bericht. Unser Sohn ist jetzt acht Monate alt. Auch er hat das Down-Syndrom. In Ihrem Bericht finde ich die Gefühle und Gedanken wieder die mich und meine Frau noch mehr

Silke Schirmeister /

Danke ,für ihren wundervollen Bericht und Dienst .Viele denen gesunde Kinder geschenkt sind ,sind nicht so engaschiert .Dieses Leben für Gott kommt ja immer aus einem Liebendem Herzen ,wie es eben nu mehr

Daniela /

Ich finde es gut,das sie Ihre Tochter nicht weggegeben haben,und Ihr dabei helfen ein relativ normales Leben führen zu dürfen. Ich selbst arbeite Ehrenamtlich viel mit Jugendlich die das DownSyndrom mehr

ute hörkner /

danke für die geschichte über alinas werdegang.gott liebt ganz besonders die kranken und jesus wird noch viele wunder tun an alina und ihrer familie.

Sabine /

Wir brauchen Menschen, die die Schwachen in unserem Umfeld annehmen und stützen. Und was gibt es Wertvolleres, als das eigene Kind mit seinen Schwächen (oder auch nicht?!) anzunehmen und nicht dem gängigen Zeitgeist zu opfern. Vielen, vielen Dank für diese Geschichte!

Regine Sommer /

Unser Sohn Christian ist jetzt 15 Jahre alt. Wir sind täglich überglücklich ihn in unsere Familie zu haben. Danke für Ihren Bericht!!!

Ingrid /

Super! So ein schöner und ermutigender Bericht. Danke.
Ich finde es sehr stark und tapfer wie Fam. Schewelew sich verhalten hat. Hut ab vor diesem gelebten Glauben. Ich bin gewiss, dass sie auch in mehr

Brigitte Schneider /

Herzlichen Dank für Ihren Beitrag . Ich kann Ihnen das sehr gut nachempfinden ,da ich einen an Taubheitgrenzende Sohn habe . Er ist mittlerweile 34 , Jesus hat ihm wunderbare Gaben geschenkt . Er mehr

S. Wilhelm /

Vielen Dank für diesen Beitrag!
Als Mutter eines behinderten Kindes stoße auch ich immer wieder an meine eigenen Grenzen. Da ist es gut zu wissen, dass Gott sich etwas dabei gedacht hat... Und dass mehr

marijke /

einfach nur mut machend und wunderbar! vielen dank für diesen ehrlichen bericht.

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