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© Lt. Moore (US Army); restored by Adam Cuerden, Public domain, via Wikimedia Commons

08.05.2023 / Aktuelles / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Katja Völkl

Zwischen Befreiung und Niederlage

Der 78. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges.

Es gibt wohl kaum ein anderes Ereignis in der Geschichte, das so unterschiedlich betrachtet wird, wie die Tage, in denen der Zweite Weltkrieg endete. Viele Gedenken dem Weltkriegsende am 08. Mai als „Tag der Befreiung“, andere am 09. Mai als „Tag des Sieges“ mit großen Militärparaden. Über die Einzelheiten sprach Saskia Klingelhöfer mit Katja Völkl.


ERF: Zunächst mal die Frage: Warum gibt es diese unterschiedlichen Daten?

Katja Völkl: Das liegt daran, dass es mehrere Orte und Zeitpunkte gab, an denen Deutschland die Kapitulationsurkunden unterschrieben hat. Am frühen Morgen des 7. Mai 1945 unterschrieb Generaloberst Alfred Jodl in Reims die Gesamtkapitulation gegenüber den Westmächten.

In der Nacht vom 08. auf den 09. Mai um 23.01 Uhr wiederholten hochrangige Vertreter aller drei Wehrmachtsteile den Akt der Kapitulation gegenüber den Sowjets.

Im damaligen Hauptquartier der sowjetischen Streitkräfte in Berlin-Karlshorst unterschrieben Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Generalstabschef der Luftwaffe Hans-Jürgen Stumpff und Admiral Hans-Georg von Friedeburg als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine des Deutschen Reiches die bedingungslose Kapitulation ebenfalls. Dann sollten auch die Kampfhandlungen enden.

Nach Moskauer Zeitrechnung fand das in den frühen Stunden des 9. Mai statt. Deshalb wird in Russland dieses Datum als Tag des Sieges gefeiert. Im Osten stellten sowjetische und deutsche Soldaten ihre Kämpfe allerdings erst drei Tage später endgültig ein.

In Italien wird übrigens schon am 25. April gefeiert. Denn am 25. April 1945 begann die italienische Partisanenbewegung auf Anweisung des antifaschistischen Comitato di Liberazione Nazionale eine Reihe von Aufständen in den norditalienischen Städten, die immer noch von deutschen und italienischen Faschisten kontrolliert wurden. Mailand, Genua, Turin und Bologna wurden alle kurz vor Eintreffen der Alliierten von Partisanen befreit.

Zwiespältige Gefühle zum Weltkriegsende bei Frankreich, Italien und Osteuropa

ERF: Mal abgesehen vom Datum: Wer feiert oder gedenkt diesen Tag in welcher Weise?

Katja Völkl: Sowohl Frankreich und Italien als auch die ostmitteleuropäischen Länder wie Bulgarien, Rumänien, Slowenien und Jugoslawien standen dem damals eher zwiespältig gegenüber.

In Italien und Frankreich z.B. waren tausende Zivilisten durch Bombardements der Alliierten ums Leben gekommen. In Frankreich hatten sich die deutschen Besatzer geweigert, zu kapitulieren. Deshalb flogen die Alliierten im Januar 1945 drei sehr große Angriffe gegen die Stadt Royan nahe Bordeaux. Dabei starben etwa 60000 Zivilisten und die Städte wurden fast vollständig zerstört.

In Jugoslawien, Polen und Ungarn wurden tausende Frauen und Mädchen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt, die dort zuvor gegen die deutschen Truppen kämpften. Heute feiern die Franzosen den 08. Mai mit Militärparaden und Gottesdiensten.


ERF: Was ist mit der DDR?

Katja Völkl: Auch hier war der 08. Mai als „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ von 1950 bis 1966 ein gesetzlicher Feiertag. Damit sollte der antifaschistische Gründungsmythos der DDR verfestigt werden. Im Mittelpunkt des Gedenkens stand die Rolle der Roten Armee. Diese sollte möglichst positiv wahrgenommen werden.

„Tag des Sieges“ für Russland

ERF: Und Russland feiert den 09. Mai mit Militärparaden als „Tag des Sieges“.

Katja Völkl: Richtig. Präzise heißt es dort: „Tag des Sieges über NS-Deutschland im Zweiten Weltkrieg und das Ende des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘“. Dieser Tag wurde ja gerade in den letzten zwei Jahren des Ukraine-Krieges besonders aufmerksam beobachtet. Schließlich begründet Wladimir Putin seinen Angriffskrieg auch damit, dass die Ukraine von den Nazis befreit werden müsse. Und vergangenes Jahr gab es zunächst Befürchtungen, dass Putin der Ukraine „offiziell“ den Krieg erklärt – was allerdings nicht geschah.

Auch in den letzten Tagen wurde wieder darüber gerätselt, was Putin für den 09. Mai plant. Wahrscheinlich wird es Militärparaden geben, jedoch in geringerem Umfang. Genau wissen wir es dann morgen.

Deutschlands Ringen um einen angemessenen Umgang mit dem 08. Mai

ERF: Und ausgerechnet in Deutschland ist der 08. Mai kein regelmäßiger bundesweiter Feier- bzw. Gedenktag.

Katja Völkl: Ja. Damit tut sich die Bundesregierung schwer – und zwar von Anfang an. Zunächst mal war die Bevölkerung natürlich stark mit sich selbst beschäftigt: zu überleben und eigene traumatische Erlebnisse zu bewältigen.

Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz auf Drängen von Konrad Adenauer vom Parlamentarischen Rat beschlossen und von den Alliierten genehmigt. Am Ende der Sitzung sagte Konrad Adenauer: „Es ist wohl in Wahrheit für uns Deutsche der erste frohe Tag seit dem Jahre 1933. Wir wollen von da an rechnen und nicht erst von dem Zusammenbruch an, so schwer die Jahre des Zusammenbruchs auch waren.“

Zuvor äußerte sich Theodor Heuss skeptisch gegenüber der Datumswahl. Er bezeichnete den 08. Mai 1945 als „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns“. Und zwar, „weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“.

Zum 25. Jahrestag des Kriegsendes gab es Stimmen z.B. von Seiten der CDU/CSU wie: „Niederlagen feiert man nicht“ und „Schande und Schuld verdienen keine Würdigung“.

Am 08. Mai 1985, dem 40. Jahrestag, veranstaltete der Deutsche Bundestag eine Gedenkstunde, bei der der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hielt. Darin bezeichnete er den 8. Mai als „Tag der Befreiung […] von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“.

Seitdem wird verstärkt über die Bedeutung des 08. Mai diskutiert.

Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz forderte die Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland, Esther Bejarano, den 8. Mai zu einem Feiertag zu erklären.
 

ERF: Aber es gibt diesen einheitlichen Feiertag noch immer nicht.

Katja Völkl: Nein. Aber in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Hamburg ist es ein offizieller Gedenktag.

Und Martin Sabrow, Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, hat in einem Artikel etwas – wie ich finde – sehr Passendes geschrieben. Darin bezieht er sich darauf, dass Mecklenburg-Vorpommern den 8. Mai schon vor Jahren zum „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“ erklärt hat.

Dazu sagt er: „Die Bundesrepublik Deutschland würde der Entwicklung ihrer Erinnerungskultur angemessen Rechnung tragen, wenn sie den 8. Mai unter dieser Bezeichnung zum gesetzlichen Feiertag erheben und damit zum Ausdruck bringen würde, dass der 8. Mai 1945 ein die Zeiten überdauernder Tag der befreienden Niederlage und des rettenden Zusammenbruchs war.

Ich verstehe, dass es für viele Menschen – darunter auch Politiker – noch immer Aspekte gibt, abzuwägen, was für und gegen einen offiziellen Gedenktag spricht. Doch für mich ist das ein guter Ansatz.“

ERF: Danke für das Gespräch.
 

 Katja Völkl

Katja Völkl

  |  Redakteurin und Moderatorin

Die gebürtige Münsteranerin ist für aktuelle Berichterstattung zuständig. Von Hause aus ist sie Lehrerin für Deutsch und Philosophie und Sprecherzieherin. Sie liebt Hunde, geht gerne ins Kino und gestaltet Landschaftsdioramen.

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