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16.05.2022 / Aktuelles / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Andreas Odrich

Nicht Wählen ist auch eine Wahl

Zur geringen Stimmbeteiligung bei den NRW-Landtagswahlen.

 

Stell dir vor, es ist Wahl, und nur die Hälfte geht hin. So geschehen im bevölkerungsreichsten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, am Sonntag, 15.05.2022, bei der Landtagswahl. Dort lag die Wahlbeteiligung der 13 Mio. Wahlberechtigten bei nur knapp 56%. Dennoch gab es gestern ein prägnantes Ergebnis mit zwei Wahlsiegern, der Union und den Grünen. Was das alles heißt für die Menschen in NRW aber auch für die Ampelkoalition in Berlin, hat Andreas Odrich von der ERF-Aktuell-Redaktion zusammengestellt.
 

ERF: Viele Kommentatoren sprechen der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen immer auch einen wegweisenden Charakter für die Bundespolitik zu. Warum?

Andreas Odrich: Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland in Deutschland. Deshalb wird es gerne als Gradmesser auch für die Bundespolitik genannt. Aber in gewisser Weise ist dies immer auch Kaffeesatzleserei. Sehr schön lässt sich dies an den Ergebnissen aus NRW für die Bundestagswahlen 2021 ablesen.

Dazu kann man z.B. bei den amtlichen Endergebnissen des Landeswahlleiters für NRW nachschauen. Dort sahen die Ergebnisse noch ganz anders aus. Sicherlich hat sich seit September 2021 viel getan, aber deckungsgleich sind die Ergebnisse zwischen bundespoltischer Wahl und Landeswahl auf keinen Fall.
 

ERF: Wie lässt sich denn das aktuelle Ergebnis der Landtagswahlen in NRW darstellen?

Andreas Odrich: Eindeutig klar ist, dass es zwei Wahlsieger gibt: die CDU und die Grünen. Die SPD konnte die Wähler längst nicht im erhofften Maße überzeugen, von Kanzlerbonus kann hier jedenfalls nicht gesprochen werden, manche Kommentatoren sehen sogar einen Kanzler-Malus.

Auch die FDP konnte nicht von ihrer Beteiligung an der Ampel auf Bundesebene profitieren, und hätte laut erster Hochrechnungen den Einzug in den Landtag fast verpasst. Wenn NRW also tatsächlich ein Spiegel für die Bundespolitik wäre, dann hätte die Ampel in Berlin alle Hände voll zu tun, das Ergebnis der Landtagswahl aufzuarbeiten, aus denen nur die Grünen merklich sieghaft hervorgegangen sind.

Nicht-Wähler größte „Partei“

ERF: Neben den Menschen, die gestern von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, gibt es aber noch eine andere Gruppe: die sogenannten Nichtwähler.

Andreas Odrich: Und diese Gruppe ist erschreckend groß und damit sehr bedeutend. Man könnte schon fast von der „Partei der Nicht-Wähler“ sprechen. Denn mit nicht einmal 56% Wahlbeteiligung ist praktisch die Hälfte der 13 Mio. Wahlberechtigten zu Hause geblieben. Im Klartext: keine einzige Partei konnte die Nicht-Wählerinnen und Nicht-Wähler überzeugen.

Grundsätzlich ist es nicht einfach, Ursache und Wirkung wirklich zu fixieren, weil man dazu in den Kopf jedes einzelnen Wählers schauen müsste. Egal ob Opposition oder Regierung, egal ob extrem oder bürgerlich - viele Menschen im Land haben sich abgewandt von den Parteien und ihrer Politik, und dies trotz Ukrainekrieg, Klimawandel, Inflation und wachsender sozialer Spaltung in unserem Land zwischen Arm und Reich. Das erschreckt mich.
 

ERF: Nun ist es doch aber nicht verboten, nicht wählen zu gehen?

Andreas Odrich: Richtig. Nicht-Wählen ist sogar verbürgtes Recht und gehört in einer echten Demokratie zur Wahlfreiheit. Wir denken zum Vergleich an die DDR, wo die Wahlen nicht frei und geheim waren und Menschen oft genötigt wurden, ihre Stimme abzugeben. Dennoch drückt das Nicht-Wählen ja eine Haltung bei den Menschen aus. Von der fürchte ich, dass es weniger aktive Stimmenthaltung als vielmehr Desinteresse und Demokratiemüdigkeit sind, die hier die entscheidenden Faktoren waren.

Das jedenfalls legt eine Studie nahe, die das Umfrageinstitut Statistika im Jahr 2009 vorgelegt hat. Dort gaben 33% der Nichtwähler der damals aktuellen Bundestagswahl an, dass sie „Politik nicht interessiere“ und 40% sagten, sie wüssten nicht, „was die Parteien eigentlich wollen“. Hier gibt es also weiterhin viel zu tun, um Politik für die Nicht-Wähler wieder existenziell werden zu lassen. Schließlich ist in einer Demokratie die „Obrigkeit“ das Volk selbst – da braucht es noch viel Übersetzungsarbeit.

Pragmatisch und mitte-zentriert

ERF: Was kann man denn von denen lernen, die gewählt haben?

Andreas Odrich: Bürgerlich-pragmatisch aber nicht ideologisch-extrem – so kann man das Wahlverhalten der Menschen in Nordrhein-Westfalen beschreiben. Die AfD hat es nur noch knapp in den Landtag geschafft, die Linkspartei bleibt weiterhin draußen. Das trifft in ähnlicher Weise auch auf das Saarland zu und auf Schleswig-Holstein, wo vor kurzem ebenfalls gewählt wurde. Man könnte hier also von einem Trend bei den Wählern in den westlichen Bundesländern sprechen: Bürgerlich-pragmatisch eben.
 

ERF: Gibt es bei den Wahlsiegern, den Grünen und der Union, trotz aller Unterschiede ein typisches Merkmal bei dieser Wahl?

Andreas Odrich: Die Vertreter von Grünen und Union haben in den letzten Wochen und Monaten Klartext gesprochen, und dies dann auch klar begründet und umgesetzt. Das kann man für die Bundesebene aber auch für Nordrhein-Westfalen sagen. Das brauchen die Menschen in Krisenzeiten – man kann sich am Kurs einer Partei oder einer Politikerin reiben, aber man weiß, woran man ist.

Möglicherweise kommt es nun sogar zu einer schwarz-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, selbst wenn auch dort eine Ampel rein rechnerisch mit der fast abgewählten FDP möglich wäre, die es nur knapp in den Landtag geschafft hat, obwohl sie in NRW fünf Jahre lang mitregiert hat. Somit ist die Wahl in Nordrhein-Westfalen tatsächlich auch ein Gradmesser für die Bundespolitik. Und hier schließt sich der Kreis: Ampel, so die Lehre aus der Wahl in Nordrhein-Westfalen, ist kein Selbstläufer.

Europas Jugend für Frieden

ERF: Blicken wir noch kurz auf eine ganz andere Wahl: das große Musikfestival Eurovision-Song-Contest, ESC. Dem wurde in diesem Jahr eine hohe politische Bedeutung attestiert – was ist an einem Musikfestival für Unterhaltungsmusik so politisch?

Andreas Odrich: Die Jugend Europas hat an diesem Samstag länderübergreifend von Schweden bis Italien und von Portugal bis Armenien ein Zeichen gesetzt für Frieden, Freiheit und Vielfalt. Fast sämtliche Publikumsstimmen aus den 39 Teilnehmerländern und aus Australien, das ebenfalls am ESC beteiligt ist, gingen an die Ukraine – damit hat die Jugend weltweit gezeigt: sie ist gegen Krieg, vor allem aber für Solidarität und Zusammenhalt.

Erinnern wir uns daran, dass vor 110 Jahren Europas Jugend noch komplett gegeneinander in den Krieg ziehen wollte, was in der Katastrophe des 1. Weltkrieges und in Folge in den 2. Weltkrieg mündete. Daher ist das Votum der ESC-Zuschauer vom 14.05.2022 ein sehr wichtiges und wertvolles Hoffnungszeichen des Friedens für das 21. Jahrhundert.
 

ERF: Vielen Dank für diese Einschätzungen.
 

 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

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