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© Mika Baumeister / unsplash.com

28.11.2019 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Andreas Odrich

Es ist die Tat, die wir alle tun würden

Michael Diener erklärt, warum EKD eigenes Schiff zur Seenotrettung betreibt.

 

Seit 21. November gibt es auf YouTube und in den sozialen Netzwerken einen Film, in dem Vertreterinnen und Vertreter von katholischer Kirche, EKD, Mennoniten und anderer christlicher Kirchen der Besatzung des Seenotrettungsschiffes Alan Kurdi ihren Segen und ihren Dank dafür aussprechen, dass sie Ertrinkende, die aus ihren Heimatländern geflüchtet sind, aus dem Mittelmeer retten. Einer von ihnen ist Michael Diener. Er ist Mitglied im Rat der EKD und Präses des pietistischen Gnadauer Verbandes. ERF Medien hat mit Michael Diener über seine Beweggründe, und warum die EKD ein eigenes Rettungsschiff in Marsch setzen will, gesprochen.

 

ERF: Als Sie die Anfrage erhalten haben, an dem Video mitzuwirken, warum haben Sie zugesagt?

Michael Diener: Die Anfrage zielte ja darauf, die Arbeit der Seenotretter in dem Metier zu unterstützen, dass uns als Kirche und als Christenmenschen wichtig ist, nämlich Ermutigung, Trost und Segen. Und deshalb, weil es als geistlicher Auftrag an uns herangetragen wurde, fand ich es ganz besonders wichtig, da nicht nein zu sagen, sondern mit dabei zu sein.
 

ERF: Sie vergleichen das Handeln der Seenotretter mit dem Unternehmer Oskar Schindler, der im Dritten Reich Juden vor dem KZ gerettet hat – worin sehen Sie eine Parallele?

Michael Diener: Genau das tue ich nicht. Mir geht es nicht um einen Vergleich von Ereignissen beim Holocaust mit Ereignissen bei der Seenotrettung. Für mich ist das, was im Holocaust geschehen ist, unvergleichbar. Deshalb verbieten sich derartige Vergleiche. Aber meine Herausforderung war, jungen Menschen, die überhaupt nicht religiös sozialisiert sind, einen geistlichen Zuspruch zukommen zu lassen, und dabei ist mir dieser Satz aus dem Talmud eingefallen: „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt!“ Dieser Satz ist mir seit Jahren sehr wichtig.

Menschen aus Afrika unterwegs auf dem Mittelmeer. (Bild: Sea-Watch)
Menschen aus Afrika unterwegs auf dem Mittelmeer. (Bild: Sea-Watch)

Und ich habe mich gefragt, was kennen denn junge Menschen, was hat in ihrem Leben schon einmal eine Rolle gespielt. Da kommt man schnell darauf, dass dieser Satz im Film „Schindlers Liste“ eine Rolle spielt, und deshalb war mir wichtig, aus didaktischen Gründen einfach diese Brücke zu bauen. Aber auch einfach weil ich wirklich glaube, spätestens seit dem Holocaust muss uns doch als Menschen aber auch gerade als Christen klar geworden sein, dass wir eine Verantwortung haben, jedes Leben zu retten, wo immer es uns möglich ist, und das wollte ich mit meinem kleinen Beitrag ausdrücken.

 

ERF: Nun gibt es durchaus Menschen, die der Seenotrettung von Flüchtlingen kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Ihre Kritik: Seenotrettung spielt letztlich den Schlepperbanden in die Hände und ermöglicht diesen erst ihr schmutziges Geschäft. Diese Kritiker gibt es durchaus auch in frommen Kreisen, was sagen Sie denen?

Michael Diener: Erstmal glaube ich, dass wir in dieser Frage in der Tat aufeinander hören und auch wirklich ruhig und sachlich miteinander diskutieren müssen. Wenn man versucht, sich ein Bild zu machen, dann stößt man auf unabhängige Studien, die genau diese Frage untersucht haben, ob es einen „Pull“-Faktor (dt. Sog- oder Zugwirkung; Anm. d. Red.) gibt, eine Erkenntnis, dass die Zahl derjenigen, die über das Mittelmeer den Weg nach Europa suchen, wächst, dadurch, dass Seenotrettung geschieht. Und das lässt sich durch zwei wirklich unabhängige Studien eindeutig widerlegen, weil auch in Zeiten, in denen keine Seenotrettung stattfindet, und die hat es ja gegeben, sich Menschen trotzdem in der gleichen Zahl oder sogar noch vermehrt auf das Meer begeben.

Man muss sich das auch mal vor Augen halten: Die Menschen kommen ja nicht überwiegend aus Libyen, wo die meisten Boote starten, sondern sie kommen aus ganz Afrika. Sie kommen aus unterschiedlichen Nationen, sie sind unter schlimmsten Entbehrungen aufgebrochen. Viele sind auf diesem Weg schon gestorben. Es ist doch einfach der falsche Ansatz, zu glauben, jetzt wo sie in Libyen sind, würden sie sich davon abhalten lassen, je nachdem, ob ein Seenotrettungsschiff da ist oder nicht, sie werden diesen letzten Schritt gehen. Und deshalb ist es für uns nicht plausibel, Seenotrettung aufgrund eines vermeintlichen „Pull“-Faktors in Frage zu stellen.
 

ERF: Aufgrund einer Petition des Deutschen Evangelischen Kirchentages dieses Jahr in Dortmund hat sich die Evangelische Kirche entschlossen, sich zukünftig aktiv an der Seenotrettung zu beteiligen und zusammen mit anderen Organisationen und Unterstützern ein eigenes Schiff in Marsch zu setzen – warum hat der Rat der EKD diese Entscheidung getroffen, sich selbst aktiv in die Seenotrettung einzubringen, man könnte dies ja auch den schon vorhandenen Nichtregierungsorganisationen überlassen?

Michael Diener: Uns ist es ganz wichtig, dass wir immer wieder betonen, dass wir als EKD nicht die Fachleute für Seenotrettung werden. Wir sehen eine ganz große Verantwortung bei den europäischen Staaten und bei der europäischen Union. Wir glauben, dass seit der Einstellung der europäischen Programme (zur Seenotrettung, Anm. d. Red.) sehr viel Leid über Menschen gebracht worden ist. Und - ja, weil Europa sozusagen derzeit nicht handlungsfähig ist -viele haben die Entwicklungen in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten verfolgt-, sehen wir uns als eine der zivilisatorischen Kräfte, die sich an dieser Stelle miteinbringen.

Und deshalb wird die EKD in einem breiten Bündnis dafür Sorge tragen, dass Ressourcen für die Seenotrettung zur Verfügung gestellt werden. Und zugleich wird sie politisch mit vielen anderen darauf hinwirken, dass Europa in dieser Frage eine Lösung findet, dass Europa gemeinsam handelt. Wir wollen hier nur stellvertretend und zeitlich begrenzt tätig sein, bis Europa seine Aufgabe an dieser Stelle erfüllt. Diese Aufgabe ist es nicht, einfach Menschen aus anderen Nationen in Europa unterzubringen , sondern Menschen zu retten, die sich aus Migrationsgründen auf die Flucht begeben haben, faire Verfahren anzubieten, und im Laufe dieser Verfahren zu klären, ob sie in Europa bleiben können oder nicht.
 

ERF: Die EKD spricht auf ihrer Homepage davon, dass es einen breiten Zuspruch aus vielen Kreisen der Gesellschaft gegeben hat. Was sagen denn die Unterstützer?

Michael Diener: Es gibt in unserer Gesellschaft unabhängig von der religiösen Haltung der Menschen einen ganz breiten Instinkt, den hat Pastorin Sandra Bils in ihrer Abschlusspredigt auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund sehr treffend zusammengefasst: „Man lässt Menschen nicht ertrinken. Punkt.“ Wir alle würden das nicht tun. Und sehr viele, die sich jetzt dankbar zurück melden, tun das, weil sie dieser Grundhaltung menschlichen Lebens folgen, weil sie sagen, das geht einfach nicht, wenn ich die Möglichkeit habe, hier etwas dagegen zu machen, dann muss ich das tun. Und dafür sind sehr, sehr viele Menschen dankbar, es ist für sie ein Urinstinkt menschlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe und es ist für sie nicht in erster Linie ein bestimmtes politisches Programm, sondern es ist die Tat, die wir alle tun würden, wenn wir einen Menschen in Lebensnot vorfinden würden.
 

ERF: Müsste bei allem Engagement nicht dennoch mehr an der Ursachen gearbeitet werden, warum Menschen keine Perspektive in ihrem Heimatland sehen. Hier ist ja im wahrsten, bitteren Sinne des Wortes, das Kind schon in den Brunnen gefallen. Was tut Kirche denn, damit Menschen erst gar nicht in Seenot geraten müssen?

Michael Diener: Ich danke Ihnen sehr für diese Frage. Denn das ist tatsächlich so ein Problem, dass die Fokussierung völlig falsch ist. Wir haben von Anfang an betont, dass ein vorübergehender Einsatz der EKD in der Seenotrettung aus besagten Gründen nur ein Baustein ist in einem ganz, ganz langen Weg. Um mal am Ende anzufangen: viele unserer Gemeinden und Kirchenkreise sind doch bis heute höchst engagiert in der Flüchtlingsfrage, betreuen Menschen, die zu uns kommen, führen sie durch Verfahren, gewähren ihnen Kirchenasyl, wenn wir der Meinung sind, dass Verfahren nicht rechtsstaatlich verlaufen sind, und akzeptieren dann letztlich auch die letztgültigen Entscheidungen der Gerichte. Also, wir haben ein hohes Engagement, sobald Menschen hier ankommen. Und wenn man sich die Arbeit von Brot für die Welt oder die Arbeit der Diakonie und der Katastrophenhilfe anschaut, dann gibt es genau diesen Versuch, auf die Fluchtursachen schon in den Herkunftsländern einzuwirken.

Also, wir haben klimatische Veränderungen, die zum Beispiel dazu führen, dass Brunnen nicht mehr benutzt werden können, weil sie durch Salzwasser, das durch die erhöhten Meeresspiegel aufsteigt, vergiftet werden. Brot für die Welt baut Brunnen in den betroffenen Ländern. Oder da, wo bestimmte Reissorten nicht mehr angebaut werden können, oder andere Stoffe, sorgt neues Saatgut dafür, dass Menschen eine Perspektive entwickeln. Wir sind also als Kirche und Diakonie und mit anderen Entwicklungsorganisationen hoch aktiv in diesen Herkunftsländern. Wir versuchen, was wir nur können, den Grund dafür zu schaffen, dass Menschen nicht weggehen. Denn das muss doch unser Ziel sein. Niemand verlässt gerne seine Heimat. Deshalb wollen wir Menschen mit unseren Möglichkeiten eines Industrielandes, eines hochentwickelten Landes, aber auch einer hilfsbereiten Gesellschaft, helfen, dass hier Gutes geschieht. Die Seenotrettung ist nur ein kleiner Baustein, all das andere ist noch viel, viel wichtiger als dieser letzte Schritt, wenn wirklich das Kind in den Brunnen gefallen ist.
 

ERF: Ein Blick auf 2020 – was wäre denn ein angemessener Umgang mit der Globalisierung und den genannten Problemen, und was dabei wäre der Auftrag des Evangeliums?

Michael Diener: Ganz klar, dass wir die Fragen, die wir jetzt besprechen, nicht im Blick auf ein einziges Jahr klären können. Aber, ich glaube, was wir wirklich miteinander brauchen, ist eine innere Haltung, wie wir mit den anstehenden Migrationsprozessen, die wir erst im Anfang sehen, eigentlich umgehen wollen. Kann es vom christlichen Glauben eine Haltung geben, dass ich sozusagen das Burgtor hochziehe, und mich verschanze? Oder muss es eine Haltung geben, die sich als Partner der Menschen in dieser Welt versteht und versucht, mit ihnen die anstehenden Probleme zu lösen. Noch einmal: Nicht jeder, der in Not ist, kann nach Deutschland oder nach Europa kommen, das ist völlig klar.

Und trotzdem müssen wir humane Wege des Umgangs miteinander finden, müssen auch offenlegen, wo zum Beispiel Handelsstrukturen für die Herkunftsländer in Afrika sehr ungerecht sind, wo wir unsere marktpolitische Stärke ausnutzen, um nur für eine Seite hilfreiche Handelsbedingungen zu schaffen, die wir dann durch Entwicklungshilfe wieder konterkarrieren. Also, es gibt ganz, ganz viele politischen Fragen, aber vom Evangelium her glaube ich, dass wir einen Blick der Barmherzigkeit brauchen und der Nächstenliebe.

Und wir brauchen im Umgang mit dieser Frage bei unterschiedlichen Positionen als Christenmenschen wieder mehr Verständnis und Hörbereitschaft und Toleranz füreinander. Denn letztlich sind wir uns doch alle einig darin, dass Gott will, dass allen Menschen geholfen wird. Dass gilt, dass sie zu Erkenntnis der Wahrheit kommen. Aber das gilt doch im Evangelium immer so, dass Heil und Wohl miteinander im Blick sind, und dafür wollen wir uns weiterhin einsetzen.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.

 Andreas Odrich

Andreas Odrich

  |  Redakteur

Er verantwortet die ERF Plus-Sendereihe „Das Gespräch“. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und ist begeisterter Opa von drei Enkeln. Der Glaube ist für ihn festes Fundament und weiter Horizont zugleich.

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