
07.06.2017 / Buchauszug / Lesezeit: ~ 6 min
Autor/-in: Ursula KochDie versteckte Kirche aus Berlin
Wie eine alte Berliner Kirche für Ursula Koch zum Symbol der Auferstehung wurde.
Buchautorin Ursula Koch ist in den 50er Jahren als Berliner Göre großgeworden. Nach langer Zeit im Westen lebt und schreibt sie jetzt wieder an der Spree. In ihrem neuem Buch „Berlin, Berlin“, nimmt sie ihre Leser mit auf eine Reise durch die Hauptstadt. Sie erzählt skurriles und charmantes, himmlisches und profanes. „Berlin, Berlin“ ist im Brunnen-Verlag erschienen.
Im Folgenden Buchausschnitt erzählt sie die ungewöhnliche Geschichte der St. Marien-Kirche aus Berlin-Mitte, die von dem DDR-Regime versteckt wurde und jetzt wieder „auferstanden“ ist.
Versteckte Kirche
Wer am S-Bahnhof Alexanderplatz aussteigt, befindet sich im Zentrum des mittelalterlichen Berlins. Davon ist nichts mehr zu sehen, nur die Kirche St. Marien steht seit mehr als 700 Jahren auf dem Platz, der einmal ein von Bürgerhäusern umrahmter Markt war.

Wenn man die Turmhalle mit dem berühmten mittelalterlichen Totentanz durchquert hat und den Kirchenraum betritt, sind es nur wenige Schritte bis zum Büchertisch, der den Besuchern Ansichtskarten, Informationsmaterial, Bücher und verschiedene Devotionalien anbietet. Als eine von zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern stehe ich zu bestimmten Zeiten dort bereit, um Fragen zu beantworten, etwas zu verkaufen oder einfach nur zu zeigen: Hier ist jemand, an den man sich wenden kann.
Tag für Tag strömen Touristen herein. Manche halten nur einmal das Smartphone hoch, machen ein Bild und drehen sich wieder zur Tür – es gibt ja noch so viel zu sehen in Berlin! Andere gehen andächtig durch das helle, hohe gotische Kirchenschiff, an den zahlreichen alten Tafeln und Gemälden vorbei, bewundern die Kanzel und vor allem die Orgel und nicken mir freundlich zu, ehe sie die Kirche verlassen. Viele von ihnen zünden eine Kerze an, verharren einen Augenblick im stillen Gebet oder wenden sich schnell ab, als hätten sie etwas Richtiges getan und seien erleichtert.
Es gibt auch Besucher, die immer wieder kommen: Der alte Mann mit dem langen grauen Bart erhält alle vierzehn Tage am Sonntag hier eine warme Mahlzeit, aber er kommt auch in der Woche herein. Immer hat er seinen gefüllten Sparstrumpf dabei – woher das Geld kommt, wissen wir nicht. Es sind „nur“ Centstücke, aber er bringt sie und füllt die verschiedenen Kollektenkästen damit. Dabei schaut er kaum auf, als täte er eine selbstverständliche Pflicht: Ein Teil der Münzen kommt in den Kasten für das „Totentanzgemälde“, ein anderer Teil ist für die diakonische Arbeit bestimmt. Und auch da, wo wir um eine Spende für den Flyer bitten, den wir Besuchern zur Verfügung stellen, wirft er etwas hinein. Dann dreht er sich um und geht. Ein anderer kommt, setzt sich in eine der hinteren Bänke und schläft ein bisschen. Er geht gebückt und hat immer eine Plastiktüte bei sich.
Es kommen viele, die nur englisch oder spanisch oder russisch sprechen, aufmerksame junge Männer aus Asien, Musliminnen mit Kopftuch und Kinderwagen, Punker und alte Pastoren, die Genaueres über die Kunstschätze unserer Kirche wissen wollen. Und dann kommt auch einmal eine Frau aus der Nachbarschaft.
Sie steht vor mir und sieht sich um. „Wissen Sie, ich wohne schon dreißig Jahre in der Nebenstraße, aber ich habe nie gesehen, dass hier eine Kirche ist.“
1964 kam Martin Luther King nach Berlin und hat in dieser Kirche gepredigt. Damals strömten 2000 Menschen herbei, obwohl sein Auftritt der DDR-Regierung keineswegs erwünscht war. Durch Flüsterpropaganda hatte sich die Nachricht verbreitet – und sie mussten noch einen zweiten Gottesdienst in der Sophienkirche organisieren, weil zu viele hereindrängten. Das waren die Treuen, die selbst unter Druck tapfer zur Kirche hielten. Einige von ihnen treffen wir noch heute sonntags im Gottesdienst. Aber sie waren eine Minderheit im sozialistischen Staat.
Der Platz in der Mitte der Stadt, zwischen dem Roten Rathaus, der Bahntrasse und der breiten Karl-Liebknecht-Straße, war zu Beginn der DDR-Zeit eine Trümmerwüste. Zwei Türme standen einander gegenüber: der Rathausturm und der schlanke, grazile Glockenturm der Marienkirche. Dazwischen lagen die Trümmer der Häuser, in denen bis 1945 Menschen gewohnt hatten. Für Architekten war dieser verwüstete Platz eine Chance. Hier sollte Neues entstehen. Und natürlich sollte dieses Neue auch eine Botschaft verkünden: die Botschaft von der Überlegenheit des sozialistischen Systems.

Das unweit gelegene Schloss wurde gesprengt, der Palast der Republik an seiner Stelle errichtet und der Fernsehturm. Dieser musste höher sein als der Westberliner Funkturm, das war klar. Seine Kugel mit dem sich drehenden Restaurant sollte zur Weltattraktion werden. Gegenüber wurden die gigantischen Denkmäler von Marx und Engels errichtet, Riesen, denen kein menschliches Gegenüber gewachsen war. Das alles ließ sich planen und umsetzen, die Wasserspiele begannen zu sprudeln, nur eines störte: diese alte Kirche …
Keiner von uns war dabei, aber wir können uns vorstellen, wie man da auf den Plan einen
kräftigen Strich machte. „Muss weg.“
Alles an dieser Kirche störte. Sie war nach Osten ausgerichtet und stand so schräg zur Bahntrasse, zu den Wasserbecken. Ihre barocke Turmhaube wirkte winzig neben dem gewaltigen Fernsehturm aus massivem Beton. Und warum sollte man nicht eine alte Kirche sprengen, wenn man schon das Schloss gesprengt hatte?
Das Seltsame, das Wunderbare, das absolut Lächerliche war, dass alle, die sich mit der theoretischen
Planung des Platzes beschäftigten, mit einer Naturerscheinung konfrontiert wurden, sobald sie den Gegenstand ihres Planens in Augenschein nahmen: Bei Sonnenschein erschien auf der verglasten Kugel des Fernsehturms deutlich und von Weitem erkennbar: ein Kreuz. Man hätte meinen können, dies sei ein Kirchturm. Je nach ihrer Einstellung zu Gott und zum sozialistischen System liefen die Beobachter rot an
vor Ärger oder lästerten hinter vorgehaltener Hand: „Sieh mal – Sankt Walter!“ Die gewieftesten
Techniker soll Walter Ulbricht herangezogen haben, um die „Störung“ zu beseitigen –vergeblich. Bis heute leuchtet das Kreuz über Berlin, sobald das Licht der Sonne darauf fällt. Und auf den Fernsehturm war man so stolz!
Aber die Kirche …
In Leipzig wurde die Universitätskirche gesprengt, auch so ein Gebäude, das für eine längst überwundene Vergangenheit stand. Die Bilder von dieser Sprengung gingen um die Welt. Und sie lösten ein Echo aus, das denen, die um Anerkennung für den neuen sozialistischen Staat bemüht waren, gar nicht gefiel.
Noch einmal eine solche Welle des Protestes hervorrufen, indem man die älteste erhaltene Berliner Kirche in Schutt und Asche legte? Irgendjemand erhob Einspruch. Irgendjemand machte einen anderen Vorschlag: Man lässt die Kirche verschwinden!
Der Schutt rings um die alten Mauern wurde so hoch aufgeschüttet, dass man hinabsteigen musste, um die Kirche zu betreten. Bäume wurden gepflanzt. Bänke mit dem Rücken zur Kirche aufgestellt. „Ich habe nie gesehen, dass hier eine Kirche ist“, sagte die Frau aus der Nachbarschaft und sah sich um.

Die Kirche ist auferstanden. Bäume und Büsche wurden beseitigt, Schutt und Erde abgetragen. Einen 400 Jahre alten Friedhof um die Mauern der Kirche legten die Archäologen frei. Was da noch lag von den Menschen, die einmal hier begraben worden waren, sammelten die Helfer und trugen es in die Turmhalle. Unter dem 550 Jahre alten Totentanzgemälde standen Särge und Kartons. In einem Gottesdienst auf dem
Friedhof der Gemeinde übergaben dann die jungen Pfarrer die alten menschlichen Überreste wieder der Erde, denn: „Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden …“
Ein neuer Kirchhof entsteht. So wie ein neues Schloss entstanden ist. Und je mehr sie zu sehen ist, desto mehr strömen die Besucher hinein, gehen vorbei am Totentanz in das leuchtende Kirchenschiff. Über dem Altar erhebt sich die Skulptur des auferstandenen Christus, das Kreuz als Zeichen des Sieges in der Hand.
Mit ihm kann auch eine Kirche auferstehen.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Brunnen-Verlages.
Ihr Kommentar