
22.06.2016 / Interview / Lesezeit: ~ 3 min
Autor/-in: Andreas OdrichMehr als eine Währungsunion
Die EU ist in erster Linie ein politisches Versöhnungsprojekt ist. Ein Interview.
Morgen entscheiden die Wähler in Großbritannien über Austritt aus oder Verbleib in der EU. Erwartet wird ein knappes Ergebnis. EU-Müdigkeit – das ist nicht nur ein britisches Phänomen. In diesem Monat haben wir im ERF das Schwerpunktthema Versöhnung. Die EU und ihre Vorgängerorganisation EWG werden häufig noch als Wirtschaftsabkommen wahrgenommen. Wie man sie aber auch wahrnehmen kann, darüber spricht ERF Redakteur Michael Klein.
ERF: Was hatten und haben EWG bzw. EU mit der Versöhnung zwischen den Völkern Europas zu tun?
Michael Klein: Eine ganze Menge. Denn was 1951 mit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ begann, war in erster Linie ein Friedens- und Versöhnungsprojekt. Vor allem Frankreich und die Benelux-Staaten hatten Angst vor einem politisch wieder erstarkenden Deutschland mit seiner gigantischen Stahlproduktion.
Stahl war und ist das wichtigste Rüstungsgut. Deshalb kam man überein, sich gegenseitig über die produzierten Mengen zu informieren und damit innerhalb dieser Gemeinschaft, zu der dann Italien hinzukam, frei zu handeln. Dasselbe galt für Kohle. Es ging also um Transparenz.
ERF: Hat das funktioniert?
Michael Klein: Das hat so gut funktioniert, dass sich die Vertragspartner nach ein paar Jahren sagten: „Das ist so praktisch, dass wir das auf unsere gesamte Wirtschaft ausdehnen sollten.“ Und so gründeten die sechs Länder 1957 in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Es gab einen weitgehend zollfreien Handel.
Das war so attraktiv, das England zweimal eine Aufnahme beantragte, die – man höre und staune – zweimal am Widerstand Frankreichs gescheitert ist. Die politische Aussöhnung zwischen Deutschland und seinen Nachbarn machte solche Fortschritte, dass sich die Vertragspartner 1985 in einem Moseldörfchen namens Schengen getroffen haben, um die Abschaffung der Grenzkontrollen zu vereinbaren. Diesem Schengen-Abkommen traten nach und nach fast alle Länder bei, die dann 1992 in Maastricht die EU gründeten.
ERF: Was hat das gebracht?
Michael Klein: Ich bin in einem Ort aufgewachsen, der sechs Kilometer von Frankreich, fünfzehn von Luxemburg und 52 km von Belgien entfernt ist. Wir haben aufgeatmet, als die lästigen Grenzkontrollen wegfielen. Da in unseren Nachbarländern vieles billiger war, gab es vorher vor allem bei der Rückreise nach Deutschland nervige Kontrollen des deutschen Zolls, ob man auch nicht zu viel Kaffee, Schokolade oder Benzin dabei hatte. Mal eben schnell nach Luxemburg oder Frankreich fahren, um leckeres Weißbrot oder günstigen Kaffee zu kaufen, ist heute selbstverständlich.
Das I-Tüpfelchen ist die gemeinsame Währung. Wenn die EWG und EU ein Versöhnungsprojekt waren, ist das an der Basis mehr als angekommen. Wir kennen es heute nicht anders und neigen dazu, diese Errungenschaften als selbstverständlich zu betrachten. Ich wurde als Kind noch angehalten, an der Grenze besonders brav zu sein, damit mich die französischen Douaniers nicht mitnehmen.
ERF: Aus diesem System wollen die Briten ja nun aussteigen – ist das Versöhnungsprojekt damit am Ende?
Michael Klein: Ob die Briten das mehrheitlich wollen, wissen wir erst am Freitag. England hat seinen Bürgern die wesentlichen Vorteile dieses Paktes vorenthalten – die Währungsunion und die Vorteile der Schengen-Zone. Die Briten haben uns Kontinentaleuropäern gegenüber durchaus Nachteile in der Wahrnehmung.
Natürlich hat die Bürokratie, die sich in fast 60 Jahren EWG und EU entwickelt hat, auch so manchen Amtsschimmel herangezüchtet. Aber da wirkt seit einigen Jahren eine Entbürokratisierungskampagne – nur sehr langsam, wie alles in der EU, aber stetig. Die Einigungsprozesse, die die Bündnisse bewirkt haben, sind hoffentlich nicht umkehrbar. Es waren immer Nationalismen, die die Völker Europas in Katastrophen gestürzt haben.
ERF: Vielen Dank für das Interview.
Ihr Kommentar
Kommentare (5)
Ein guter Tag für Europa, denn weniger EU bedeutet zwangsläufig mehr Europa. Das Gefängnis ist aber noch nicht endgültig aufgeschlossen. Es ist ja bekannt, was der Big Brother Staat EU von Gesetzen … mehrund der Meinung des Volkes hält. Es wurden schon einige Volksabstimmungen ignoriert oder so oft wiederholt, bis es passte. In diesem Zusammenhang sind übrigens die Vorträge von Roger Liebi zum Thema Endzeit und biblische Prophetie sehr interessant. Er kann sehr gut darlegen, dass in der letzten Phase der Endzeit Europa von einer schreckliche Diktatur beherrscht werden wird. In diese Richtung gehen auch die Deutungen von Dr. McGee in "Durch die Bibel" zum Thema Offenbarung. Hier war die Auslegung in den 80er Jahre geradezu prophetisch. Nur mit Gewalt kann man in Europa einen Zentralstaat errichten und aufrecht erhalten.
So, jetzt ist es soweit ... sie haben abgestimmt. ich kann mich über diesen Brexit nicht wirklich freuen. Ich finde es traurig, dass eine so große Entscheidung, die in ihrer Tragweite aufgrund der … mehrvielen Verflechtungen sehr ungewiss ist, einer Gruppe von Menschen (Brexit-Befürwortern) überlassen wird, die eigentlich viel mehr ihre Stimmen innerhalb der EU hätten erheben sollen, für mehr soziale Sicherung, Arbeit und Bildung statt dass die EU ständig die Konzerne und Banken bevorzugt bzw rettet. Die Rettung Griechenlands ist nämlich nicht ans kleine Volk gegangen, zum Beispiel.
Der Gedanke, dass nach dem 2. Weltkrieg kein Land in Europa mehr Angst haben sollte, dass sich etwas wie der Holocaust nochmal wiederholt, ist schon sehr gut und wichtig. Ich finde nationales klein-klein auf unserem Kontinent auch echt nicht mehr zeitgemäß. Das Problem ist, dass die EU genau das Gegenteil von dem Verkörpert, was sie eigentlich repräsentieren sollte: Demokratie
Intellektuelle Redlichkeit und Kompetenz erwarte ich vom ERF. Was soll da dieses wirklichkeitsfremde Gerede von Reisefreiheit und (Schein-)Versöhnung. Wenn es solch einen Gründungs(!)gedanken jemals … mehrgegeben haben sollte, hat das mit der EU-Wirklichkeit schon lange nichts mehr zu tun. Lesen Sie sich bitte mal den Kommentar von Pfaelzer durch - da steht mehr Wahrheit und mehr Information drin als in Ihrem ganzen Interview.
Die Gründer der EWG wollten ein Europa der Vaterländer. Die EWG kann somit niemals Vorläufer dieses zentralistischen Molochs EU sein. 1993 war ein Bruch und von dieser Warte muss die EU betrachtet … mehrwerden. Längst gereicht sie der Verballhornung "EUdSSR" alle Ehre. Laut Urteil vom Verfassungsgericht handelt es sich bei der EU um keine demokratische Institution, was die Verfassungsrichter auch gleich wieder entschärfen wollten, indem sie darauf hinwiesen, dass die EU ja nicht demokratisch sein muss, da es sich um eine überstaatliche Organisation handeln würde. Das Prinzip der Gewaltenteilung kennt die EU entsprechend nicht. Die von den EUROKraten verursachten Krisen haben die Völker Europas so gespalten, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Ja, es gibt inzwischen, dank diesem Rettungsirrsinn, regelrechten Hass zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen den Völkern Europas. Ich habe nichts dagegen, wenn die EU offiziell als Erfolgsprojekt in die Geschichte eingeht. Wenn sie denn endlich Geschichte wird. Europa wird auch nach der EU noch bestehen.
Nun ja, der Friedensgedanke der EU ist nicht mehr das entscheidende Element, das diese Gemeinschaft heute prägt. Es ist mehr eine Wirtschaftsunion geworden. Ich denke auch, dass der Wohlstandsgedanke … mehr(das Wort benutzte Cameron?) den Friedensgedanken abgelöst hat. Das sieht man auch daran, dass viele EU-Länder sich weigern, in der Flüchtlingskrise ihren Teil beizutragen