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© Lothar Rühl / ERF

18.03.2016 / Schwerpunktthema Identität / Lesezeit: ~ 4 min

Autor/-in: Tanja Rinsland

Nur auf der Durchreise

Was es heißt, im globalisierten Zeitalter ein Kind zweier Kulturen zu sein.

„Wo kommst du eigentlich her?“ Eine harmlose Smalltalk-Frage, die mich jedes Mal in Verlegenheit bringt, weil ich keine Antwort darauf finde. Als Tochter von Brasilien-Missionaren bin ich mit zwei Kulturen aufgewachsen und fühle mich eigentlich nirgendwo Zuhause. Oft habe ich verzweifelt versucht herauszufinden, wo ich hingehöre - vielleicht auch, um zu verstehen, wer ich bin. Ein Einblick in die Gefühlswelt einer Heimatlosen, die trotzdem angekommen ist.

Redakteurin Tanja RInsland (Foto: Privat)

„Saudade“ ist das schönste Wort der brasilianischen Sprache. „Saudade“ ist außerdem unübersetzbar. Vielleicht könnte man es am besten als eine Mischung aus Heimweh, Sehnsucht und Melancholie erklären. Dieses lähmende, dumpfe Gefühl, dass mich immer dann überkommt, wenn gute Dinge zu Ende gehen. Oder wenn ich aus dem Fenster eines Zuges schaue und weiß, dass bei Ankunft niemand auf mich wartet. „Saudade“ hat man nach etwas: nach Freunden, nach Familie - aber auch nach Straßen und Gerüchen, nach Stimmungen und Stimmen, die eine Saite in mir haben klingen lassen, die ich schon lange nicht mehr gehört habe.

Von Brasilien nach Deutschland

„Saudade“ ist mein Lebensgefühl. Egal, wo ich bin, vermisse ich auch etwas. Die längste Zeit, die ich am Stück an einem Ort gewohnt habe, waren sieben Jahre. Ich erinnere mich an 14 Umzüge in meinem Leben, vielleicht waren es auch mehr. Meine Eltern sind noch vor meiner Geburt von Deutschland nach Brasilien gezogen, und dort wuchs ich auf. Meine Muttersprache ist eine Kreuzung aus Deutsch und Portugiesisch, das nur meine Geschwister verstehen, der Soundtrack meiner Kindheit eine Mischung aus Rolf Zuckowski und Bossa Nova. Meine Verwandten habe ich erst kennengelernt, als ich fünf war, über Jahre hinweg waren sie für mich kaum mehr als vertraute Stimmen am Telefon und ein Bild an der Wand.

Dann, als ich 18 wurde, zogen wir in ein hessisches Dorf bei Dillenburg. Goethe hatte es einfacher mit seinen zwei Herzen in der Brust. Mir schien es, als ob ganze Kontinente in mir aufeinanderstürzten. Die Häuser, in denen ich groß geworden bin, die Freunde, die ich als Kind hatte - alles weg. Nichts ist geblieben außer vagen Erinnerungen an schöne Tage und erstaunliche Fertigkeiten beim Packen von Umzugskisten.

Meine Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Ich bin ein Produkt dieses globalisierten Zeitalters, in der ganze Generationen aus gepackten Koffern leben: Studenten, die mal eben um den Globus reisen, um ihren Master zu machen. Familien, die sich als moderne Auswanderer versuchen, am besten mit TV-Team im Schlepptau. Gastarbeiterenkel, deren Deutsch türkisch klingt und ihr Türkisch deutsch. So unterschiedlich diese Lebenswege sein mögen, so habe ich doch eins mit ihnen allen gemeinsam: Ich habe keine Ahnung, wo ich eigentlich hingehöre.

Nirgendwo zu Hause

Hier, in Deutschland, vermisse ich die Sonnentage meiner Kindheit, den sich ständig wiederholenden Rhythmus meiner Heimatstadt São Paulo, das Dröhnen der Millionen Autos, den Singsang der portugiesischen Sprache.  Und dort - dort vermisse ich den Blick auf den seltsam unfertigen Wetzlarer Dom, die Herbstblätter im Wind, das genauso unmöglich zu übersetzende Wort „Gemütlichkeit“. Es wird immer diesen Teil von mir geben, der ein ganzes Meer entfernt von seinem Zuhause ist.

Wenn der Brasilianer von „Saudade“ spricht, nutzt er es mit dem Verb „bater“: „A saudade bate“. Übersetzt heißt das „anklopfen“ -  wie zaghafte Finger an eine geschlossene Tür - aber auch „schlagen“ - wie die Faust in die Magengrube. Und so ist es wohl mit meiner unübersetzbaren Sehnsucht: Meistens lässt sie sich im Trubel der Tage überhören, manchmal tut es so weh, dass ich Blut spucken könnte.

Zuhause bei Gott

Und gerade dann klammere ich mich an einen Bibelvers, der mich immer wieder getröstet hat: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebräer 13,14). Es ist ein kleiner Satz im Epilog eines Briefes aus der Bibel. Die Verse davor sind praktische Tipps des Autors: Wie man mit anderen Menschen umgehen soll, mit dem Ehepartner, mit seinem Glauben. Und bei all seinen Ratschlägen will der Schreiber daran erinnern, dass es mehr gibt als die Welt, die ich jetzt sehe. Ich bin nur auf der Durchreise und mein Leben trage ich als gepackten Koffer mit mir herum. Manchmal verweile ich an einem Ort, atme durch, finde Ruhe. Dann wieder stürze ich mich in den Strudel der Zeit, treibe mit dem Ticken der Uhr von Tag zu Tag. Aber egal, ob ich gerade Wurzeln schlage oder kurz vorm Abflug bin, weiß ich, dass mein Zuhause bei Gott ist.

Gott ist der, der mich schon mein ganzes Leben kennt. Er teilt mit mir die Erinnerungen an Früher und meine zweigeteilte Kultur. Er versteht mein brasilianisches Herz und meinen deutschen Kopf. Er ist mein Hafen, der sichere Grund unter meinen Füßen, meine Heimat. Wenn ich rastlos bin, wenn die „Saudade“ mir in die Magengrube boxt - dann weiß ich, dass eine bleibende Stadt auf mich wartet. Noch sehe ich sie nicht, aber trotzdem bin ich angekommen.

 

 

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