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16.09.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Christine Keller

Raus aus dem Teufelskreis!

Wie aus dem Mobbing-Opfer ein Lebenstrainer wurde: Michael Stahl im Interview.

Michael Stahl setzt sich für das körperliche Wohlergehen anderer ein: Heute mithilfe von Selbstverteidigungskursen, früher als Bodyguard von Prominenten. Genauso wichtig ist ihm aber auch, dass es Menschen seelisch gut geht. Sein besonderes Anliegen: Eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Was es bei Kindern bewirkt, vernachlässigt zu werden und sich nicht geliebt zu fühlen, hat Michal Stahl am eigenen Leib erfahren – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben mit dem ehemaligen Bodyguard über Sehnsüchte von Kindern, Versöhnung und Schwäche gesprochen.    

ERF: Warum ist Ihnen das Thema Selbstverteidigung so wichtig?

Michael Stahl: Ich habe als Kind Gewalt erfahren und Angriffe über mich ergehen lassen. Ich hatte eine Sehnsucht nach Sicherheit. Mein allererster Berufswunsch war, und das ist kein Witz, zur Müllabfuhr zu gehen, weil ich dachte, da müsste man nur mittwochs arbeiten. Mein zweiter Berufswunsch war Pfarrer, dann wollte ich zur Polizei. Im Prinzip kann ich jetzt alles auf einmal machen. Ich darf Menschen beschützen, ich darf ihnen beibringen, wie man Grenzen setzt und ich darf ihnen von Gott erzählen.

Die Leidtragenden sind die Schwachen

ERF: Wie sieht das aus – bei der Selbstverteidigung von Gott erzählen?

Michael Stahl: Für mich geht es nicht darum, immer von Gott und Jesus zu reden, damit treibt man Menschen auch manchmal weg. Für mich bedeutet Glaube auch, in Beziehung zu Menschen zu sein. In meiner Sportschule ist jeder angenommen, egal, was er in seinem Leben gemacht oder nicht gemacht hat. Wenn er kein Geld hat, darf er kostenlos bei uns trainieren. Außerdem haben wir Abenteuer-Camps, Tischkickerturniere, Weihnachtsfeiern, Sommerfeste; also viele Gelegenheiten, bei denen man mit Menschen an einem Tisch sitzt.

Da merken die Leute, dass in meinem Leben etwas anders ist. Zum Beispiel, wenn ich über Schuld und Versagen spreche, über meine Lebenswunden. Das macht die Menschen neugierig. Aber es steht auch auf meiner Homepage, dass ich Christ bin. Trotzdem glaube ich, dass das gelebte Leben, die Beziehungen, die man mit Menschen hat, Wertschätzung und die Liebe, die man den Menschen gibt, die ausschlaggebenden Punkte sind. Jesus ging es immer um die Beziehungen.

ERF: Sie werden in Kindergärten, in Schulen und Kinderheime eingeladen. Warum ist es Ihnen wichtig, gerade Kindern beizubringen, wie man Grenzen setzt?

Michael Stahl: Ich mache das jetzt seit fast 23 Jahren und habe festgestellt, dass Kinder immer mehr leiden. Ehen gehen auseinander und die Leidtragenden sind die Schwächeren. Ich habe in meiner Kindheit am eigenen Leib erfahren, was Mobbing bedeutet. Und was es bedeutet, wenn man Sätze hört, wie „Du bist nichts“ und „Du kannst nichts“ und was das mit Menschen anrichtet. Ich möchte meine Erfahrung, meinen Schmerz, dafür verwenden, dass es anderen besser geht als mir damals.

ERF: Was haben Sie in Ihrer Kindheit erlebt?

Michael Stahl: Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben und hat mir die Genehmigung gegeben, darüber zu sprechen und das ist mir wichtig. Mein Vater war Alkoholiker und ich wurde in meiner Kindheit geschlagen, getreten, bespuckt und habe sehr oft gehört „Du bist nichts“ oder „Du kannst nichts“. Bis zum 14. Lebensjahr habe ich im Schlafzimmer meiner Eltern geschlafen. Diese Umstände und auch die Lieblosigkeit, die ich manchmal erlebte, haben dazu geführt, dass ich dachte, dass ich nicht wertvoll bin. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es einer der Hauptpunkte ist, warum Menschen verletzt, ausgelacht und gemobbt werden. Nicht weil sie groß, klein, dick oder dünn sind, sondern weil andere Menschen spüren, dass man es mit diesem Menschen machen kann. Das war bei mir so. Ich hatte jeden Tag drei bis vier andere gegen mich. So war jeder Tag geprägt von Flucht und von Kämpfen.

„Ich klage nicht an“

ERF: Sind es ähnliche Geschichten, die Sie heute bei Kindern erleben?

Michael Stahl: Jede zweite Ehe wird mittlerweile geschieden und man merkt bei den Kindern eine große Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Zuhause, nach Mama und Papa – und zwar nach beiden. Ich erlebe auch, dass die Kinder heute viel Zeit vor Computer, Playstation und Fernseher verbringen und diese Kisten sind kalt und leer. Wenn ich sie dann frage: „Was möchtest du am liebsten mit Mama und Papa machen?“,  dann kommen ganz andere Dinge zur Sprache. Mir hat noch kein einziger gesagt: „Playstation spielen“ oder „Fernsehen gucken“ oder „vor dem Computer rumsitzen“. Die Jungs wünschen sich, ein Baumhaus mit dem Papa zu bauen, fischen, klettern, am Lagerfeuer zu sitzen. Wenn ich Mädchen ab 10 Jahren frage: „Was würdest du gerne mit Mama machen?“, ist die Top-Antwort: „Zum Shoppen gehen.“ Die zweite Antwort ist Kochen und Kuchen backen. Das sind ihre tiefsten Sehnsüchte und wir wissen, dass unerfüllte Sehnsüchte krank machen können. Und ich erlebe, dass immer mehr Menschen, hauptsächlich Kinder und Jugendliche, seelisch erkranken, weil die wahren Sehnsüchte nicht gestillt werden.

ERF: Wie können Sie als außenstehende Person den Kindern dabei helfen, diese Sehnsüchte zu stillen?

Michael Stahl: Mir ist wichtig, die Eltern mit ins Boot zu nehmen. Ich berichte ihnen auch aus meinem Leben, insbesondere von meinen Fehlern. Ich klage nicht an. Ich spreche auch über Schuld, über mein Versagen und über meine aktuellen Wunden, denn die gibt es auch. Manchmal wünschen wir uns als Eltern, dass unsere Kinder mit uns sprechen; auch über Dinge, die sie verletzen oder weh tun. Dann frage ich die Eltern: „Habt ihr euren Kindern schon mal erzählt, dass man euch mal verletzt hat? Dass man euch weh getan habt, dass man euch beleidigt hat?“ Die meisten Eltern fragen mich dann: „Nee, ist das wichtig?“ Auch das muss vorgelebt werden und da begegne ich den Eltern auf Augenhöhe und spreche auch über meine Fehler.

Ich bin zum zweiten Mal verheiratet und habe einen 21-jährigen Sohn, für den ich oft nicht da war. Ich erzähle Eltern von dieser Zeit und welche Verletzungen daraus entstanden sind. Ich erzähle aber auch, was wir besser machen können. Die Vergangenheit kann man nicht ändern, aber das Hier und Jetzt. Deswegen spreche ich auch oft mit Eltern, habe Elternabende und Veranstaltungen, wo Erwachsene da sind.

„Meine Stärke ist, dass ich über Schwäche reden darf“

ERF: Konnten Sie auch in Ihrer Zeit als Bodyguard über innere Verletzungen sprechen?

Michael Stahl: So tiefe Gespräche, von denen ich gerade erzählt habe, habe ich damals noch nicht geführt. Ich war selbst noch nicht soweit und hatte mit Verletzungen zu kämpfen. Aber ich habe mit ihnen über Gott gesprochen. Mir gegenüber haben viele Prominente ihre dunklen Gedanken geäußert und mir von ihrer Depression berichtet. Ich habe sie gesehen, wenn die Kameras ausgingen, wenn die Scheinwerfer ausgingen; im Auto, an der Hotelbar, auch im ungeschminkten Zustand. Ich habe ihre Traurigkeit oft mitbekommen und deswegen konnten wir tiefe Gespräche führen.

ERF: Wie hat Ihnen Ihr Glaube geholfen, mit Verletzungen umzugehen?

Michael Stahl: Mein Glaube gibt mir Lebenssinn und heilt meine Wunden; das kann nur Jesus Christus. Ich habe das praktisch erlebt: Ich hab als Kind nicht mehr leben wollen. Ich stand am Bahngleis und hatte eine Stimme in meinem Herzen „Du bist geliebt, lebe weiter“. Außerdem hatte meine Familie vor einigen Jahren einen sehr schweren Autounfall. Meine 17 Monate alte Tochter und meine Frau waren im Auto und wurden verletzt, eine Freundin von uns ist gestorben. Meine Frau hat um ihr Leben gekämpft. Ich denke, wenn es dir den Boden unter den Füßen wegzieht, dann ist die Sehnsucht nach einem da, der dich hält und der dich trägt. Von daher ist das bei mir nicht nur Lebenseinstellung, einen Glauben zu haben, sondern ich habe es praktisch erfahren dürfen. Wenn es dir den Boden wegreißt, ist einer da, der dich trägt. Deswegen darf ich auch schwach sein, ich muss nicht den ganzen Tag über stark sein. Und das ist vielleicht meine Stärke, dass ich über Schwäche reden darf.

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.


 

Michael Stahl über die Wünsche von Kindern ("Gott sei Dank!" vom 09.08.2015. Hier kommen Sie zur gesamten Sendung)

 Christine Keller

Christine Keller

  |  Redakteurin

Hat in der Redaktion von ERF Jess gearbeitet. Ist ansonsten als freie Journalistin auch online und hinter der Kamera unterwegs. Sie hat Hummeln im Hintern, was aber nicht weh tut. Sie liebt es, To-Do-Listen zu schreiben und abzuhaken. Wenn‘s doch mal entspannt sein soll, nimmt sie gern ein gutes Buch zur Hand.

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Kommentare (1)

Rainer S. /

Sehr sehr bewegend! Das hätte ich vor 15 Jahren mal hören sollen. Besser jetzt als nie, doch jetzt verstehe ich manche Begebenheiten besser. Gott segne Dich Michael

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