Jesus beschreibt sich mit den sieben "Ich bin"-Worten aus dem Johannesevangelium selbst. Für die Autorin Andrea Schwarz wurden diese Worte zu Bildern voller Sehnsucht. Ihre Entdeckungen hält sie in poetischen Texten im Buch "Reise in die Sehnsucht" fest. Ein Buchausschnitt
Manchen Menschen macht dieses Wort Jesu vom Weinstock und den Reben ziemlichen Druck, weil sie denken, sie würden von Gott nur geliebt, wenn sie eine entsprechende Leistung erbringen. Und dann mühen sie sich ab und rackern und schuften – und machen anderen damit gelegentlich sogar ein schlechtes Gewissen, weil die eben nicht so viel machen und tun. Wir hören „Frucht bringen“ und assoziieren „Leistung“ damit.
„Leistung“, das ist ein Begriff aus unserem industriellen Zeitalter. Maschinen müssen Leistung bringen, denn die sind teuer und müssen sich auszahlen, am besten 24 Stunden am Tag und an 365 Tagen im Jahr. Eine Maschine mag so etwas verkraften – aber für Menschen wäre das ein selbstmörderisches Programm. Und das will Jesus überhaupt nicht. Er selbst entzieht sich oft genug den Anforderungen und Erwartungen der Menschen und zieht sich in die Stille zurück.
„Frucht bringen“ – das ist ein Begriff aus der Natur, und die Menschen, die das Wort Jesu damals hörten, haben sicherlich gut verstanden, was der damit meinte. Wenn man zum Beispiel eine Apfelbaum pflanzt, dann weiß man ziemlich genau, dass man im ersten Jahr von ihm noch keine Früchte erwarten kann. Er muss erst mal richtig Wurzeln schlagen, sich die Kraft aus dem Boden holen, ein bisschen wachsen. Und dann kommen vielleicht im nächsten Frühjahr die ersten zaghaften Blüten. Wenn man viel Glück hat, hängt im Herbst vielleicht ein Apfel an diesem jungen und kleinen Baum. Dann aber wirft er seine Blätter ab, steht kahl und bloß für Monate in Schnee und Eis, Kälte und Wind. Keinen Pfifferling würde man für den geben, so tot sieht er aus! Aber dann, eines Tages, wenn die Sonne schon ein wenig wärmt, schmücken plötzlich kleine, weiße Blüten diesen scheinbar toten Baum. Dann kommen so allmählich die Blätter, und er wächst noch ein bisschen, und plötzlich entdeckt man drei oder vier kleine Äpfel. Die kann man dann im Herbst auch ernten.
Um Frucht zu bringen, braucht es Zeit. Das geht nicht 24 Stunden am Tag und an 365 Tagen im Jahr. Es braucht die Zeit der Ruhe, in der sich alle Kraft in die Wurzeln zurückzieht, es gibt die Zeit der Blüte, des Wachsens – und schließlich die Zeit der Frucht – um dann in diesem Kreislauf wieder von vorne zu beginnen.
Jesus gibt uns diese Zeit, damit wir in ihm und aus ihm heraus wachsen können, uns verwurzeln können und zugleich dem Himmel entgegenstrecken. Wir dürfen blühen und Blätter austreiben und uns wieder in die Wurzeln zurückziehen, wenn wir Frucht gebracht haben.
Und ein Gärtner weiß auch, dass es für jede Pflanze gute und schlechte Jahre gibt – er wird einen Apfelbaum nicht gleich deswegen umhauen, nur weil in einem Jahr die Ernte nicht ganz so üppig ausfällt.
Wenn Jesus der Weinstock ist und wenn wir aus ihm und seiner Kraft heraus wachsen und leben, dann werden wir Frucht bringen, vielleicht nicht gleich und sofort, mit Sicherheit nicht rund um die Uhr das ganze Jahr über – aber das erwartet er auch gar nicht von uns.
Und: Jede Frucht entsteht aus einer Blüte. Zuallererst sind wir sozusagen zum Blühen eingeladen! Ohne Blüte gibt es gar keine Frucht!
In der Frucht wiederum ist der Same verborgen. Das, was Frucht bringt, sät sich aus. Und das ist eigentlich der Grundgedanke jeder Frucht – sich weiterzugeben, sich weiter zu verschenken. Das „woher“ einer Frucht ist die Blüte, das „wozu“ ist die Weitergabe des Lebens, ist die Anstiftung zum Leben.
Übrigens: Er erwartet auch nicht, dass jede Rebe gleich aussieht.
Ihr Kommentar
Kommentare (2)
Ein sehr befreiender Text, dieser Buchausschnitt, sehr ermutigend - danke
Fand ich sehr sehr gut und sehr gut verständlich.