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© Shelter Now Germany e.V.

04.03.2011 / Wiederaufbau in Pakistan nach der Flutkatastrophe / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

Die Menschen wollen keine Radikalisierung

Die Überschwemmungen in Pakistan liegen ein halbes Jahr zurück. Wir haben bei Shelter Now nachgefragt, wie die Lage vor Ort heute aussieht.

Udo Stolte ist deutscher Leiter der christlichen Hilfsorganisation Shelter Now, die auch in Pakistan tätig ist. Unmittelbar nach den verheerenden Überschwemmungen im August 2010 hat er im Interview gegenüber ERF Online die Situation vor Ort geschildert. Mit etwas mehr als sechs Monaten Abstand zur Katastrophe berichtet er heute, wie Shelter in der Zwischenzeit zu helfen versuchte und was noch an Aufbauarbeit nötig ist.     

Mit diesem Küchenset ausgestattet, können die Menschen wieder selbst kochen (oben). Kinderleichte Technik: Lebensrettende, gelbe Plastikkanister (unten).
Bilder: Shelter Now Germany e.V.

ERF Online: Die Flutkatastrophe in Pakistan ist etwa ein halbes Jahr her. Shelter Now war seitdem permanent vor Ort. Wie haben Sie den betroffenen Menschen geholfen?

Udo Stolte: Wir haben zu Anfang Lebensmittel verteilt, weil die Leute hungrig waren und nichts mehr hatten. Es war ja alles zerstört. Deswegen haben wir für vier bis sechs Wochen erst einmal täglich warme Mahlzeiten an bis zu 4000 Menschen verteilt. In dieser Zeit haben die großen Organisationen wie USAID angefangen, Lebensmittel zu verteilen. Die Menschen konnten die Sachen aber nicht kochen. Wenn man einen Sack Mehl vor sich hat und nichts zum Kochen oder einen Ofen, dann kann man damit nicht viel anfangen. Also haben wir den Menschen Küchenutensilien verteilt. Dazu gehörte ein Gasbrenner, Töpfe, Kochgeschirr, Kochbesteck und das gleiche auch nochmal als Essbesteck mit Tellern und Schüsseln. Damit konnten die Leute ihre Nahrungsmittel erst einmal wieder selbst zubereiten.

ERF Online: Heißt das, Sie haben die Hilfe mit den anderen Hilfsorganisationen geteilt und die einen haben Lebensmittel geliefert, die anderen Essgeschirr und wieder andere Unterkünfte?

Wir haben das folgendermaßen gemacht: Durch unsere ersten Lebensmittelverteilungen sind wir mit manchen Dorfgemeinschaften in Kontakt gekommen. Da gibt es welche, wo eine Art Funke überspringt und wo eine längerfristige Hilfe erfolgversprechend aussieht. Mit denen kommt man ins Gespräch und sie sagen ziemlich bald, was sie brauchen. Darauf wir sind angewiesen. Wir haben uns auf die Einwohner von drei ehemaligen Dörfern konzentriert. Das geht natürlich nur, wenn man in sich in Koordinierungssitzungen abspricht. Andere Organisationen konzentrieren sich dann auf andere Dörfer.

ERF Online: Sie haben die Hilfe mit den Menschen abgesprochen. Welche Nöte haben die Dorfbewohner geäußert?

Anfangs war der Hunger groß, dann kam das verseuchte Trinkwasser. Das war ein Riesenproblem. Die Leute wurden zu diesem Zeitpunkt krank, auch wenn es noch keine schlimmen Krankheiten wie Typhus oder Cholera waren. Aber sie hatten Hautekzeme oder Brechdurchfall und das ist ja besonders für Kinder gefährlich. Wir haben im engen Kontakt mit einem Hilfswerk in Deutschland dann ca. 500.000 Wasserreinigungstabletten beschafft und verteilt. Diese Organisation hat uns kostenlos diese Chlortabletten zur Verfügung gestellt, die zehn Liter Wasser keimfrei machen. Das hat sehr geholfen. Gleichzeitig sind wir auf die Lifesafer Jerrycans aufmerksam geworden. Das sind gelbe Kanister aus Kunststoff mit einem Membranfilter. In sie kann man ca. 20 Liter total verschmutztes Wasser einfüllen und auf der anderen Seite kommt glasklares, keimfreies Wasser raus. Das ist ein Superzeug, aber auch sehr teuer. Davon haben wir an 1300 Familien je einen Behälter verteilt. Die Filter reichen für ca. ein Jahr. Und wir rechnen damit, dass im kommenden Frühjahr das Wasser aus den Brunnen wieder in Ordnung ist.

Wir haben auch an alle Familien je vier „Shalwar Kameez“, das ist die dort übliche Kleidung, verteilt. Denn die Flutopfer haben oft nur die Kleidung retten können, die sie am Leib trugen. Die war nach einiger Zeit verschlissen, so dass man die kleineren Jungen schon völlig unbekleidet herumlaufen sah. Wir mussten davon ausgehen, dass es etlichen Mädchen, Frauen und Männern ähnlich ging, die sich natürlich nie gezeigt hätten. Der Zustand wurde uns dann von den Dorfleuten bestätigt und wir haben die Kleidung nähen lassen.

Aus den Medien, aus dem Sinn

Shelter Now leistet seit 25 Jahren humanitäre Hilfe in Afghanistan und Pakistan. Mehr Informationen über ihre Arbeit und die Möglichkeit dafür zu spenden finden Sie auf shelter.de.

ERF Online: Immer noch stehen Landstriche unter Wasser und vor allem in den Bergen ist die Infrastruktur zerstört. Ist schon an Wiederaufbau zu denken?

Das kommt darauf an, um welche Dörfer es sich handelt. Bei uns im Norden ist das Wasser mittlerweile abgelaufen. Es gibt zerstörte Straßenstrecken und zerstörte Brücken und da weiß ich nicht, wie die Situation momentan aussieht. Wir können die Dörfer, in denen wir arbeiten, in einer Stunde Fahrt von unserem Hauptbüro gut erreichen. Aber Strom- oder Trinkwasserleitungen, sofern es welche gegeben hat, sind teilweise immer noch zerstört. Das sind die längerfristigen Maßnahmen.

ERF Online: Wie sieht es mit dem Wiederaufbau der Häuser aus?

Das kommt jetzt. Die Leute hatten Angst vor dem Winter. Bei manchen Häusern standen noch die Mauern, da konnte man eine Zeltplane darüber spannen, so dass zumindest ein bisschen einen Wetterschutz vorhanden war. Aber die Temperaturen können im pakistanischen Winter durchaus bis an den Gefrierpunkt sinken. Da können auch wir in Deutschland uns gut vorstellen, dass man krank wird, wenn man bei Regen und drei Grad Celsius kein Dach über dem Kopf hat. Deswegen haben die Menschen ziemlich früh gesagt, dass sie Material für den Winter brauchen. Das war aber schon dicht am Winter dran.

Irgendwelche Planen haben sich die Leute beschafft. Wir haben uns mehr darauf konzentriert, die, die es am allernötigsten hatten, mit Backsteinen für den Hausbau zu versorgen. Wir haben das jeweils mit den Komitees, die aus Dorfbewohnern bestehen, abgesprochen. Dieses Komitee hat die bedürftigsten Familien ausgesucht. Diese müssen das Fundament selbst legen. Wenn das tragfähig ist, bekommen sie Backsteine. Wenn sie die Mauern hochgezogen haben, wird das von Fachleuten geprüft, erst dann bekommen sie das Dachmaterial. Die Menschen bauen ihre Häuser also selbst auf. Wir haben die Finanzierung für 100 einfachste Häuser mit einem Raum bekommen. Zwanzig davon sind mittlerweile vor der Fertigstellung. Mit diesem Häuserbauen sind wir vollauf beschäftigt. Später geht es dann um die Frage, wo Saatgut her kommt, damit die Felder bestellt werden können. Das ist eine wichtige Frage, damit die Menschen sich dann wieder selbstständig versorgen können.

ERF Online: Können Sie abschätzen, wie lange dieser Prozess noch dauern wird?

Ich schätze, dass Hilfe noch für zwei oder drei Jahre nötig sein wird. Dann wird es nicht mehr nötig sein, dass die Menschen Nahrung bekommen. Aber langfristige Unterstützung, bei der es um Nachhaltigkeit und um Hilfe zur Selbsthilfe geht, ist garantiert noch länger nötig. Das Problem ist: Medien sind kurzlebig, die Not hält noch lange an. Die Pakistaner brauchen noch lange Unterstützung, auch wenn ihre Situation aus den Medien und damit aus dem Sinn der Menschen in Europa weg ist. Bis die Menschen für ihren Lebensunterhalt wieder selbst sorgen können, ist noch mancher Brunnen zu graben, manches Feld zu beackern.

Udo Stolte bei der Übergabe eines Bündels der Shalwar Kameez (oben).
Langsam geht der Wiederaufbau der Häuser voran (unten).
Bilder: Shelter Now Germany e.V.

Der Wunsch nach Wohlstand steht vor politischen Interessen

ERF Online: Die Pakistaner leiden nicht nur an der desolaten wirtschaftlichen Situation. Eine deutsche Ärztin vor Ort erzählt von Menschen, die in ihren Träumen von Wassermassen verfolgt werden. Haben Sie den Eindruck, dass viele Menschen auf diese Art traumatisiert sind?

Ich gehe davon aus, dass etliche traumatisiert sind. Ich habe noch nie erlebt, dass Menschen über ihre eigene Regierung so wütend waren, wie hier nach der Flut. Das zeugt davon, dass sie übermäßig aufgewühlt waren. Von dem her kann ich mir vorstellen, dass eine Ärztin solche Dinge beobachtet hat. Ich selbst habe es nicht erlebt, aber ich weiß, dass unsere Leute mit den Menschen reden. Sie fragen nach den inneren Nöten der Leute. Mittlerweile genießen sie auch so viel Vertrauen, dass die Leute von selbst damit zu ihnen kommen. Als Christen trösten sie sie dann, beten mit ihnen. Das wird gerne angenommen.

ERF Online: Haben Sie den Eindruck, dass die Flut einer Islamisierung Pakistans Vorschub leistet?

Die Radikalisierung geht schon einige Jahre vor sich, das ist nicht erst im letzten halben Jahr passiert. Aus meiner Beobachtung kann ich nicht sagen, ob die Flut dem Vorschub leistet. Was ich beobachtet habe, ist, dass Organisationen geholfen haben, die von radikalen Verbänden organisiert und finanziert worden sind. Da besteht die Gefahr, dass extrem frustrierte Menschen in die Arme dieser Gruppen getrieben werden. Das ist auch passiert. Aber ich kann nicht sagen, ob das langfristig Auswirkungen hat oder ob das abebbt, wenn die größte Not vorbei ist. So wie ich die Landbevölkerung kenne und einschätze, wollen sie ihre Familien versorgen und in Frieden leben. Sie wollen es bis zu einem gewissen Maß an Wohlstand bringen, so dass sie keine Angst vor dem nächsten Winter haben müssen. Die meisten von ihnen haben kein Interesse an radikalpolitischen Entwicklungen oder gar terroristischen Maßnahmen. Sie haben eher Angst davor.

ERF Online: Diese Leute wissen auch, dass Shelter Now eine christliche Organisation ist?

Ja, das wissen alle. Die Leute fragen die Helfer nach ihrem Glauben. Eine ständige Frage ist, ob wir Muslime sind. Wenn wir dann sagen, dass wir zu Jesus Christus gehören, freuen sie sich. Wenn man antworten würde, dass man nicht religiös ist oder an gar nichts glaubt, wäre das für die Leute eher peinlich. Deswegen sind die christlichen Organisationen tendenziell auch besser angesehen. Natürlich nicht bei den Radikalinskis, aber bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.

ERF Online: Bekommen Sie als Christen Gegenwind von radikal muslimischen Organisationen, etwa dass diese versuchen, sie schlecht zu machen oder vom runden Tisch zu verdrängen?

Normalerweise nicht. Wenn es um Koordinierungssitzungen geht, habe ich das bisher nicht beobachtet.

ERF Online: Es hieß zu Beginn der Flut, dass Christen in manchen Gebieten von der Hilfe ausgeschlossen worden sind. Ich nehme an, das hat nicht ihr Einsatzgebiet betroffen, aber wissen Sie da etwas darüber?

Ich habe auch gehört, dass radikale Gruppen zu Christen gesagt haben, dass sie nur Hilfe bekommen, wenn sie Muslime werden. Aus eigener Beobachtung kann ich das nicht bestätigen. Solche Berichte sind auch nicht einfach nachprüfbar. Neuerdings habe ich nichts mehr in diese Richtung gehört.

ERF Online: Am 2. März wurde der pakistanische Minister Shahbaz Bhatti ermordet. Als einziger Christ in der Regierung hatte er sich für die Änderung des so genannten Blasphemiegesetzes stark gemacht, das immer wieder auch gegen Christen angewandt wurde. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?

Wir sind schockiert über die feige und brutale Ermordung von Minister Bhatti. Er war ein aufrechter Mann, der für Gerechtigkeit gekämpft hat und für diesen mutigen Kampf mit seinem Leben bezahlt hat. Wir sind sehr besorgt, was den Schutz der Minderheiten in Pakistan betrifft.

ERF Online: Vielen Dank für das Gespräch!

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (2)

beobachter /

"ERF Online: Am 2. März wurde der pakistanische Minister Shahbaz Bhatti ermordet"
Vor zwei Monaten war bereits der Gouverneur der ostpakistanischen Provinz Punjab, Salman Taseer, aus dem gleichen mehr

Albert Stecker /

Sehr geehrte Damen u. Herren,
die hautnahe Präsenz dieser Organisation ist beindruckend. Ich werde mir über Wikipedia mehr
Informationen besorgen.
Die kommerziellen Medien berichten nur über mehr

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