
06.11.2010 / Säkulare Bestseller im Fokus / Lesezeit: ~ 6 min
Autor/-in: Peter Strauch"Winter im Sommer – Frühling im Herbst"
Peter Strauch kommentiert aktuelle Bestseller. Diesmal im Foukus: Joachim Gaucks "Winter im Sommer – Frühling im Herbst"
Wäre es nach dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl gegangen, so wären die Stasi-Akten wohl nie geöffnet worden. Bonn drängte 1990 darauf, sie dem Bundesarchiv in Koblenz zu überstellen, so sah es der Einigungsvertrag vor. Aber der Osten empörte sich. So einigte man sich auf einen Kompromiss: Für die politische, historische und juristische Aufarbeitung sollten die Akten geöffnet und auf dem Gebiet der (damals noch bestehenden) DDR gelagert werden. Leiter sollte ein von der Volkskammer gewählter „Sonderbeauftragter“ sein. Dieser Mann wurde Joachim Gauck. In der letzten Sitzung der Volkskammer wurde er gewählt.
Die Aufgabe war immens. Nach seriösen Schätzungen handelt es sich bei den Akten des früheren Ministeriums für Staatssicherheit um einen Bestand von ca. 204 km Länge, wobei ein Meter etwa 10000 Din-A-4-Blätter enthält. Auch Tonbänder, Filme, Fotos, ja selbst perverse Geruchsproben (Tücher mit dem speziellen Geruch einer Person) gehören dazu. Wie sollte ein ehemaliger Pfarrer diese Aufgabe bewältigen? Anschaulich und nicht ohne Humor erzählt Gauck, wie er und sein Team unter Anleitung erfahrener westdeutscher Beamter in diese Arbeit hineinwuchsen (Wir waren die Laienspieler, sie die Profis). Allein in den ersten 100 Tagen des vereinigten Deutschlands stellten 420 000 Menschen einen Antrag auf private Akteneinsicht. Wie ist es möglich, dass ein ehemaliger Pastor einen solchen Auftrag erhält?
Joachim Gauck wurde 1940 in Rostock geboren. Eindrücklich erzählt er von seiner Kindheit bei den Großeltern auf dem Fischland, von der Ankunft der russischen Armee, vom Vater, den das DDR-Regime zu zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Seine Schul- und Studentenzeit verbringt er in Rostock. Als 15jähriger unternimmt er ausgedehnte Reisen in den Westen, besucht den Großvater väterlicherseits im Saarland, unternimmt mit seinem Cousin Fahrradtouren durch Hamburg und Schleswig-Holstein.
Das ändert sich schlagartig mit dem Bau der Mauer. „Der Mauerbau war die eigentliche Geburtsstunde der DDR“, schreibt Gauck, “vom 13. August 1961 an gehörte man dazu – auf immer und ewig.“ Trotzdem hat er nie an Flucht gedacht. Im Gegenteil, es bedrückte ihn, dass so viele (oft gerade die Begabtesten) in den Westen gingen. Besonders schmerzhaft trifft es ihn, als seine beiden Söhne die Ausreise beantragen. Nach langer Wartezeit und vielen Beeinträchtigungen müssen sie plötzlich in kürzester Zeit das Land verlassen. Auf das Weinen seiner Frau reagiert er mit klugen Sätzen: „Ich wehrte mich gegen die Tränen meiner Frau, weltschlau und gefühlsgelähmt…“ Nach einem halben Jahr folgt auch Tochter Gesine. Gaucks Frau sieht sich diesem dritten Abschied nicht mehr gewachsen und verreist.
Mit großer Sensibilität beschreibt Joachim Gauck das damalige Lebensgefühl der Menschen in der DDR, z.B. am Strand von Warnemünde mit dem Blick auf die sich entfernenden Fähren nach Dänemark: „Da stehen wir nun…hinter uns das bewachte Land, vor uns die bewachte See. In diesem Augenblick aber sehen wir weder Wachturm noch das Schiff der Wächter – nur die Ostsee, eine Ahnung von Weite, Ferne, Freiheit…“ Zahlreiche DDR-Urlauber hielten damals Ausschau nach westlichem Strandgut, eine Flasche, angeschwemmt mit dem Etikett von Bols oder einer anderen bekannten Westmarke. Später fanden diese Flaschen dann fein gesäubert in Dutzenden von Haushalten auf Wohnzimmerschränken oder Flurregalen ihren Platz.
Aber Joachim Gauck gehört nicht zu denen, die sich in West-Fantasien verlieren. Noch während des Theologiestudiums ist er unsicher, ob er wirklich Pfarrer werden soll. Erst im Vikariat, in der Begegnung mit Menschen, die „mit ihrem Gott leben, täglich beten, regelmäßig die Bibel lesen“ wird ihm klar, dass dies seine Berufung ist. Gauck schreibt: „Ich stand vor ihnen wie ein armer Bettler, weil ich die Kraft, die Güte, die Treue nicht kannte, die diese Menschen ausstrahlten… Ich lernte, dass das kritische Denken nicht das Wichtigste, nicht die letzte Wahrheit ist in meinem Leben.“
Anschaulich beschreibt er sein Leben als Gemeindepfarrer, zunächst in einer mecklenburgischen Landgemeinde , dann in der Plattenbau-Siedlung eines Rostocker Neubaugebietes. Von Haus zu Haus ging er dort, klingelte und stellte sich als evangelischer Pastor vor. Das blieb auch der Stasi nicht verborgen. So meldete ein Amtskollege (IM Römer) der Staatssicherheit, die Kirchenleitung habe sich überrascht gezeigt, dass sich in einer Neubaugemeinde in kurzer Zeit eine solche Gemeindearbeit entwickeln lasse. Aufgrund mangelnder Gemeinderäume entstehen Hauskreise. Dort wachsen Beziehungen, bei denen auch Alltagssituationen und politische Auseinandersetzungen zur Sprache kommen.
Die Einmischung des Pfarrers ist unvermeidbar. In dem Buch kommen berührende Einzelschicksal zur Sprache - von ihm, manchmal aber auch von den Betroffenen selbst erzählt. Dabei kommt ein Wesens- und Charakterzug Gaucks zum Tragen, der ihn für seine Freunde (und Feinde!) einschätzbar und verlässlich macht: Gauck verbiegt sich nicht, meint, was er sagt, bezieht Position, steht zu seinem Wort. Das Pfarramt verschafft ihm dabei eine gewisse Unabhängigkeit. Die Kirche war in der DDR der einzige Raum, der nicht dem unmittelbaren Zugriff des Staates und der Partei unterlag. Das erklärt auch, dass sich nach der Wende relativ viele Pfarrer in politischer Verantwortung fanden. Gauck ist es allerdings wichtig, daraus keine Fehlschlüsse zu ziehen. Er schreibt: „Wer die kirchliche Arbeit in der DDR vor allem danach beurteilt, wie weit sie sich als Opposition verstand, hat den eigentlichen Auftrag von Kirche nicht erfasst: „Im Zentrum ihres Denkens und Handelns stand auch in der DDR Jesus Christus. Es ging darum, den Menschen das Wort Gottes nahezubringen und sie für den christlichen Glauben zu gewinnen.“
Im Herbst 1989 kommt es auch in Rostock zu Fürbittgottesdiensten und Demonstrationen. Die Initiatoren wollen Gauck als Prediger, denn er habe die Gabe, auszusprechen, was die Menschen fühlen und wollen. Im Blick auf diese Begabung sagt Gauck sagt von sich, seine Predigten seien anfangs zu akademisch gewesen. Erst Schritt für Schritt habe er gelernt, dass es wichtiger ist, verstanden zu werden, als einen geschliffenen Text vorzutragen. So wächst Joachim Gauck mehr und mehr in eine politische Rolle hinein. Gegen manche Stimmen (auch aktiver Pastorenkollegen) beginnt er für die deutsche Einheit zu werben.
Einen dritten Weg (zwischen Sozialismus und Kapitalismus) hält er für unrealistisch. Mit Tränen in den Augen erlebt er am 18. März 1990 die erste freie und geheime Wahl auf dem Boden der DDR („In diesem Moment wusste ich: Du wirst nie, nie eine Wahl versäumen!“). Was dann folgt, ist für Nichtbeteiligte kaum zu fassen. Mit unglaublicher Dynamik entwickelt sich der Weg zu einem vereinigten Deutschland. Aus „Wir sind das Volk“ wird „Wir sind ein Volk“. Joachim Gauck erlebt die Nacht zum 3. Oktober 1990 mit seiner Frau auf den Stufen des Reichstags, wenige Schritte neben Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl. Am selben Tag noch beginnt sein Dienst als Leiter einer Behörde, die später nach ihm ihren Namen erhält.
In den Wochen danach mischen sich Glücksgefühle mit der Trauer über das Ende einer nicht gelungenen Ehe. „Im DDR-Alltag war mir trotz aller Krisen eine Trennung nie in den Sinn gekommen, zumal mir das Gelöbnis eines lebenslangen Bundes als selbstverständliche Verpflichtung erschien…“ Er schreibt von sich: „Der, der immer bleiben wollte, war nun auf seine Weise gegangen, nicht in den Westen, aber in eine andere Welt.“ Joachim Gauck verschweigt und beschönigt nicht. Es ist dieses Miteinander persönlicher Eindrücke und Erfahrungen mit geschichteschreibenden Ereignissen, dass das Buch so besonders lesenswert macht.
Nein, Bundespräsident ist Joachim Gauck nicht geworden. Ich bin nicht mal sicher, ob das für ihn und uns (als Volk) der richtige Weg gewesen wäre. Aber dass der 70jährige als Kandidat für dieses erste Amt im Staat so viel Anerkennung vor allem auch vonseiten junger Leute fand, leuchtet dem Leser seiner Autobiografie ohne weiteres ein. Mag zu seiner Kandidatur auch parteiliches Kalkül eine Rolle gespielt haben, seine große Zustimmung bei den Menschen ist vermutlich ein Ausdruck der Sehnsucht nach verlässlichen Persönlichkeiten. „Der ist echt“ pflegen junge Leute zu sagen, und das scheint für sie keine Frage des Alters zu sein.
"Winter im Sommer – Frühling im Herbst"
Joachim Gauck
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Siedler Verlag
ISBN 3886809358
22,95€ im Buchhandel vor Ort oder bei Amazon.de
Bild: Random House
Ihr Kommentar
Kommentare (6)
Ich bedanke mich sehr für diesen informativen Artikel über das Buch von Herrn Gauck, das ich bestimmt bestellen und lesen werde.
Ich danke für diese Infos und wünsche, dass es doch mehr Meschen gibt die, "echt" sind! Das sollte gerade unter Christen gefunden werden!
Dies ist ein Buch wider das Vergessen unserer jüngsten Vergangenheit. Die Mischung aus persönlichem Erleben und Beschreibung der politischen Situation in der damaligen DDR ergaben für mich "Westkind" … mehrnoch einmal ganz neue Einsichten in diese Zeit. Ich kann mich Peter Strauch nur anschließen: "besonders lesenswert."
Joachim Gauck gibt in seinem Buch das wieder, wie es wirklich in der DDR gewesen ist. Noch nie habe ich so ein gutes authentisches Buch über diese schlimme Zeit gelesen. Ich dachte bei jedem … mehrUmblättern der Seite; gleich erscheint mein Name - so sehr habe ich mich als ehemaliges Gemeindemitglied seiner Rostocker Th.Morus-Gemeinde identifizieren können. Pastor Gauck hat mir damals indirekt Mut gemacht den Verbrecherstaat DDR illegal zu verlassen. Zum Ende des Buches hätte ich mir gewünscht, dass er mehr Gott die Ehre gegeben hätte und nicht nur geschrieben: „Da habe ich Glück gehabt.“ Ich bin Gott unendlich dankbar, dass am 9.11.1989 alles so friedlich von statten gegangen ist. Allerdings bin ich nicht einverstanden, wenn das alles unter den Teppich gekehrt werden soll, was die Stasi an Leid vielen Menschen angetan hat. Die Schließung der Stasiakten können doch nur die wollen, die Dreck am Stecken haben. Die Gauck-Behörde sollte niemals schließen!
tolle Rezi, wie immer bei Peter Strauch, von dem ich schon mehrere zu aktuellen Bestsellern gelesen haben. Immer sehr differenziert, klar und zugewendet geschrieben
Danke
Ich finde es unendlich schade, dass Herr Gauck nicht zum Bundespräsidenten gewählt worden ist.