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Das Misstrauen überwinden

Glaubens-FAQ / Lesezeit: ~ 11 min

Autor/-in: Michael Gerster

Das Misstrauen überwinden

Christen leben von Vergebung, sündigen aber trotzdem. Meist, weil sie Gott nicht wirklich vertrauen. Wie kann ich verinnerlichen, dass er es gut mit mir meint?


„Schuld kann vergeben werden, das ist der tiefste Urgrund christlicher Freiheit“ – diese Worte stammen aus einer Predigt von Margot Käßmann, die sie drei Monate nach ihrem Rücktritt vom Bischofsamt und dem EKD-Vorsitz in der Marktkirche zu Hannover hielt. Was aber passiert, wenn Christen wieder und wieder sündigen? Gibt es Grenzen der Vergebung? Und: Wie kann man Sünde überwinden?

Eigentlich ist es doch klar. Zumindest für evangelisch-lutherische Christen. Als Christ bin ich simul iustus, simul peccator: gleichzeitig Sünder und Gerechter. Das bedeutet: Ich werde also mein Leben lang immer wieder sündigen und immer wieder Gott um Vergebung bitten müssen.

Doch was ist mit all den Bibelstellen, die nicht das Lied der Vergebung zu singen scheinen? Die mich auffordern, die Sünde, „die uns ständig umstrickt“ (Hebräer 12,1), abzulegen? Die mich davor warnen, dass Habsüchtige und Unreine keinen Erbteil im Reich Gottes haben werden (1. Korinther 6,9Epheser 5,5)? Und die mir sogar ganz deutlich sagen, dass diejenigen, die mutwillig sündigen, nachdem sie die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, hinfort kein andres Opfer mehr für ihre Sünden haben werden (Hebräer 10,26)?

Um diese Stellen besser einordnen zu können und um ein umfassendes Bild über Gottes Gerechtigkeit und Vergebung zu erhalten, muss man sich erst einmal anschauen, was Sünde eigentlich ist und was bei der Vergebung passiert.
 

Sünde

Sünde beschreibt grundsätzlich die Trennung des Menschen von Gott. Sie beschreibt in erster Linie einen Zustand als einzelne Taten. Sünde ist letztlich nichts anderes als die zerstörte Beziehung des Menschen zu Gott. Der Mensch hat sich durch Stolz und Misstrauen selbst aus dieser Beziehung herausgenommen (1. Mose 3). Diese Trennung des Menschen von Gott hat Auswirkungen auf die gesamte Schöpfung (Römer 8,22). Die Sünde entwickelt eine tödliche Eigendynamik, durch sie kommen Mord und Totschlag in die Welt (1. Mose 4), die Taten der Menschen sind von dieser zerstörerischen Macht durchdrungen. Man muss deshalb zwischen einzelnen Sünden, also einzelnen sündigen Taten und der Macht der Sünde unterscheiden, die in ihrer Tod bringenden Dynamik schon fast personale Züge annimmt (Römer 7,20).
 

Umkehr und Vergebung

Doch Gott macht sich schon früh auf die Suche nach dem Menschen. Sein Ziel ist es, die Freundschaft mit ihm wieder zu erneuern. Deshalb ruft Gott von Anfang an: „Wo bist du?“ Dieser Ruf zieht sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch. Am lautesten ruft Gott aber in seinem Sohn Jesus Christus. Jesus von Nazareth selbst fordert als Gottes Sohn sein Volk zur Umkehr auf (Markus 1,15).

Um die Rückkehr zu ermöglichen, ist Jesus bereit, alles aufzugeben, sogar seinen herrschaftlichen Status als Gottes Sohn. Er geht sogar so weit, sein Leben zu geben, damit die Menschen wieder in Gottes Gegenwart treten können, um ihn anzubeten und Gemeinschaft mit ihm zu haben. Durch den Tod Jesu am Kreuz wird die Schuld des Menschen vergeben und die Beziehungsstörung zwischen Mensch und Gott beseitigt.

Durch Jesu Tod herrscht Frieden zwischen Mensch und Gott (Lukas 2,14Kolosser 1,20) und die tiefe Gemeinschaft des Geschöpfes mit seinem Schöpfer wird wiederhergestellt. Und zwar so sehr, dass Gott Wohnung im Menschen nimmt (Galater 2,20).
 

Ein neuer Mensch

Durch den Tod Jesu am Kreuz geschieht aber noch viel mehr als nur die Vergebung meiner Sünden. Ja, Gott vergibt in Jesus Christus den Menschen ihre Schuld. Doch er geht noch einen Schritt bzw. mehrere Schritte weiter. Durch Jesu Tod beseitigt er nicht nur die einzelnen Sünden des Menschen, er besiegt auch die Sünde selbst, nimmt ihr ihre zerstörerische Macht.

Der Mensch ist nicht nur von seiner Schuld befreit, sondern auch von dem Zwang, sündigen zu müssen (Römer 6,6.7). Da, wo der Mensch vorher trotz aller Bemühungen immer wieder zum Scheitern verurteilt war, weil die Sünde das Herz des Menschen korrumpiert hatte, da gilt nun: Durch Tod und Auferstehung Jesu bin ich ein neuer Mensch (2. Korinther 5,17). Der alte, der sündige Mensch ist mit Christus begraben (Römer 6,4).

Der von Christus gerettete Mensch ist also nicht nur ein Mensch ohne Schuld, er ist ein neuer Mensch, der nicht mehr unter der zerstörerischen Macht der Sünde steht. Er ist nun frei, so zu leben, wie Jesus es vorgelebt hat. Er kann die andere Backe hinhalten, nachdem er geohrfeigt wurde. Er kann vergeben, wo ihm Unrecht getan wurde. Er kann Frieden stiften, wo Krieg herrscht (Matthäus 5). Mit dem Tod und der Auferstehung Jesu ist die Grundlage dafür gelebt, dass der Mensch in Einheit mit Gott leben und seinen Willen tun kann. Allerdings stellt sich dieses neue Leben nicht automatisch ein. Es muss ergriffen werden.
 

Ein Prozess

Paulus fordert seine Leser heraus: „Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ (Epheser 4,22-24). Die neue Identität des Menschen wird ihm also von Gott geschenkt – und dennoch muss er sie auch ergreifen. Und dieses Ergreifen ist ein Prozess. So wie man ein Kleidungsstück nach dem anderen aus- bzw. anzieht, so müssen auch neue Verhaltensweisen Schritt für Schritt eingeübt werden. In der Bibel wird dieser Prozess an mehreren Stellen als Heiligung beschrieben (2. Korinther 7,11. Thessalonicher 4,3Hebräer 12,14). 
 

Warum sich der Kampf gegen die Sünde lohnt

Wenn man über diesen Prozess nachdenkt, ist es wichtig, Heiligung nicht zu verwechseln mit dem Versuch, immer weniger zu sündigen, um vor Gott immer besser dazustehen. Besser als durch die Vergebung Jesu, die er mit seinem Tod ermöglicht hat, kann man gar nicht vor Gott stehen.

Bei der Heiligung geht es um Wesensveränderung. Es geht darum, Christus ähnlicher zu werden, der der erste unter vielen Brüdern ist (Römer 8,29). Und bei diesem Prozess, dem Prozess Christus ähnlicher zu werden, wird die Sünde zur Behinderung. Und zwar deshalb, weil sie meinen Blick von Christus wegnimmt, dem ich nachfolgen und immer ähnlicher werden will. Sie nimmt mir nicht mein Heil, sie trennt mich nicht von Christus, aber sie lässt mich müde werden, hoffnungslos werden in dem Prozess, ein neuer Mensch zu werden.

Einzig und allein aus der Motivation heraus, Christus ähnlicher zu werden, sollte ein Christ den Kampf gegen die Sünde aufnehmen. Alle anderen Gründe führen nämlich letztlich dazu, dass ich nur noch die Sünde im Blick habe, die ich nicht mehr tun will. Und damit geraten letztlich ich und mein Bemühen nach Sündlosigkeit in den Fokus. Und ehe man sich versieht, dreht man sich wieder nur um sich selbst und die eigene, vermeintliche Vollkommenheit. 

Doch selbst in diesen Strudel kann Christus eingreifen, indem er einem vor Augen führt, dass man nie und nimmer aus eigener Kraft, das neue Leben leben kann, zu dem ich als Christ berufen bin. Man erkennt dann mit Paulus: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn! So diene ich nun mit dem Gemüt dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“ (Römer 7,24f).
 

Die richtige Perspektive

Wie kann ich als Christ also damit umgehen, dass man einerseits von Gott die Zusage hat, nicht mehr unter der Macht der Sünde zu stehen (Römer 6), andererseits aber doch immer wieder die Erfahrung macht, zu sündigen? Zunächst hilft es nicht, in Panik und Selbstverurteilung zu geraten. Auch nach der 1000. Sünde gilt: „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns“ (1. Johannes 1,9). Es hilft aber auch nicht, wenn ich versuche, diese Spannung aufzulösen.

Diese Spannung darf mich direkt in die Arme Jesu treiben. In der Gemeinschaft mit Jesus nämlich wird meine Perspektive auf mein Leben, meine Schuld, aber auch auf meine Heiligung gerade gerückt. Ich wurde von Jesus erlöst, damit ich wieder mit Jesus und seinem Vater Gemeinschaft haben kann. Ich wurde nicht erlöst, um ein perfekter Mensch zu werden. Ein perfekter Mensch, der Gott am Ende gar nicht braucht.
 

Erlöst zur Gemeinschaft

Ich wurde erlöst und von meiner Schuld befreit, damit ich ungetrübte Gemeinschaft mit Jesus haben kann. Und diese Gemeinschaft, die das Ziel meiner Erlösung ist, ist auch der Anfangspunkt für meine Veränderung. Durch die Gemeinschaft mit Jesus bekomme ich überhaupt die Kraft, Gottes Werke zu tun (Johannes 15,5). Nur durch die Gemeinschaft mit Jesus kann ich ein anderer Mensch werden.

Was am Kreuz und in der Auferstehung Jesu geschah, nämlich dass mir meine Schuld vergeben und ich ein neuer Mensch wurde, dass nimmt durch die persönliche Beziehung zu Jesus Gestalt an. Im täglichen Gebet, im Hören auf sein Wort und das leise Reden des Heiligen Geistes in meinem Herzen, lerne ich Jesus besser kennen. Ich werde ihm immer ähnlicher, wenn ich ihm begegne und ihn anschaue (2. Korinther 3,18). Diese Begegnung kann auf verschiedene Art und Weise stattfinden: in Zeiten der Stille, während ich einer Predigt zuhöre oder im freundlichen Wort eines Mitchristen.

In der Gemeinschaft mit Jesus wird dann auch das Aus- und Anziehen des neuen Menschen konkret. Jesus spricht mich Schritt für Schritt auf die Bereiche an, die in meinem Leben noch nicht in Ordnung sind. Er geht dabei behutsam vor, er tritt die Türen zu den Lebensbereichen, die ich vor ihm verschlossen halte, nicht ein, sondern er klopft an (Offenbarung 3,20).

Bereiche, in denen ich immer wieder versage, sollten mir dabei zu denken geben. Nicht in erster Linie, weil ich Angst haben muss, dass Jesus die Geduld mit mir verliert und den Prozess der Heiligung mit mir abbricht, sondern weil sie mich auf eine Spur bringen können. Bereiche, die ich Jesus vorbehalte, können nämlich Bereiche sein, in denen ich verletzt wurde, in denen ich Gott nicht vertraue.
 

Vertrauen lernen 

Vielleicht fällt es mir schwer, Jesus im Bereich Finanzen zu vertrauen. Ich werde vielleicht geizig, es fällt mir schwer, für Gottes Reich und Menschen in Not zu spenden. Natürlich muss ich mir vor Augen halten, dass Habgier Götzendienst ist und Götzendiener keinen Erbteil im Reich Gottes haben (1. Korinther 6,9). Ich sollte aber nicht versuchen aus eigener Kraft gegen diese Sünden anzukämpfen, sondern den Dingen auf den Grund gehen. Und dabei werde ich dann zum Beispiel erkennen, dass ich im Grunde meines Herzen Jesus nicht vertraue, dass er für mich sorgt und ich glaube, dass ich in manchen Bereichen zu kurz komme, wenn ich mich auf ihn verlasse.

Vielleicht bin ich als Kind in einer armen Familie groß geworden und habe darunter gelitten, dass meine Eltern wenig Geld hatten. Deshalb glaube ich, für mein Wohlergehen selbst sorgen zu müssen. Ich glaube – und das bringt uns an den Anfang alles Sündigens zurück – im Grunde genommen nicht, dass Gott es gut mir meint. Ich glaube, Gott will mir das Gute vorenthalten.

Diese Sichtweise bedeutet nicht, dass ich die Schuld für mein Verhalten in meiner Biografie oder in meinem Umfeld suchen kann. Ich bin trotzdem für mein Verhalten verantwortlich. Sie kann aber helfen, den Ursachen auf den Grund zu gehen und Gott mein Fehlverhalten zu bekennen und ihn um Hilfe bitten, mir neues Vertrauen zu schenken.

Die einzelnen kleinen und großen Sünden meines Lebens, die ich wieder und wieder tue, können mich der einen Ursünde des Menschen auf die Spur bringen. Die Ursünde des Menschen besteht darin, Gott nicht zu vertrauen und seinen Platz einnehmen zu wollen.

Doch wie kann ich mein Misstrauen Gott gegenüber ablegen? Hier hilft nur, viel Zeit in die Beziehung zu Jesus zu investieren. Mich in Bibelverse zu vertiefen, die von Gottes Güte und Fürsorge sprechen. Geschichten von Menschen lesen, die erlebt haben, dass Gott für sie sorgt. Ich kann auch mit einem Seelsorger zusammen Jesus immer wieder neu für das Misstrauen, das mich zum Sündigen führt, um Vergebung bitten. Außerdem kann ich dann die Bereiche, in denen mir das Vertrauen schwerfällt, ansprechen und Jesus bitten, mein Vertrauen zu ihm zu erneuern.
 

Abendmahl

Ein Schatz, den es zu entdecken gilt, ist das Abendmahl. Hier kann ich mich immer wieder neu vergewissern, was Jesus für mich getan hat. Ich erlebe neu, wie meine Sünden Jesus ans Kreuz gebracht haben und wie er mir von dort seine Hand reicht. Wenn ich die Worte höre „Christi Leib für dich geben – Jesu Blut für dich vergossen“, dann weiß ich: Es geht nicht allein um einen heiligen Zustand, es geht um eine heile Beziehung. Jesus hat sein Blut nicht für meine Reinheit vergossen, er hat es für mich vergossen. Für mich vergossen, damit ich leben kann und für immer wieder und wieder in seine geöffneten Arme rennen kann – ob mit oder ohne Schuld.
 

Gottes gute Gaben

Dieses Vertrauen in Gottes Güte kann generell immer dort erneuert werden, wo ich seine Vergebung erfahre. Ich erfahre, dass Gott es gut mir meint und mir meine Sünden nicht vorhält. Eine gute Übung dazu ist die Beichte. Leider nach der Reformation zum Teil über Bord geworfen, liegt hier doch ein geheimnisvoller Ort verborgen, an dem Vergebung konkret erfahrbar wird. Zugegeben, es gehört viel Überwindung dazu, seine Sünden vor einem anderen Menschen auszusprechen, aber vielleicht ist dieser Schritt der Schritt der Demut ans Kreuz. Und nur dort erfahre ich, wie ernst Gott meine Sünde nimmt, was er sich meine Vergebung hat kosten lassen und wie befreiend es ist zu hören: Deine Sünden sind dir vergeben. Jesus selbst hat seine Jünger zu dieser Praxis aufgerufen (Johannes 20,23) und sie ging auch in der frühen Kirche nicht verloren (Jakobus 5,16).
 

Der neue Mensch

Wenn ich mit einem anderen Christen vor Gott stehe und um Vergebung bitte, wird mir ein weiterer, zentraler Aspekt der Vergebung bewusst. Nicht nur ich stehe mit meiner Schuld immer wieder neu vor Gott, sondern auch andere Christen. Und vielleicht stehen sie sogar vor Gott als Menschen, die mir gegenüber schuldig geworden sind. Spätestens da wird deutlich, dass Vergebung mehr ist als die Beseitigung meiner Fehler und Sünden.

Die Erkenntnis der eigenen Schuld öffnet den Blick, auch dem Mitmenschen immer wieder neu zu vergeben. Jesus selbst macht deutlich: Auch hier darf es keine Grenzen geben (Matthäus 18,21-34). Man darf Vergebung also nicht so verstehen, dass einfach nur mein Kontostand im Himmel aus den roten Zahlen kommt. Mit der Vergebung durch Jesus entschließt sich Gott, den Menschen wieder neu zu machen, einen neuen Menschen nach dem Vorbild Jesu zu gestalten, der seine Liebe und seine Vergebungsbereitschaft lebt und in die Welt hinaus weiterträgt.

Mit der Vergebung schreibt Gott also Geschichte. Er schreibt seine Liebesgeschichte mit den Menschen fort und ermöglicht ihnen einen Neuanfang. Nicht, damit sie perfekt sind. Nicht damit sie moralische Überflieger werden, sondern damit sie seinem Sohn ähnlich werden und Gottes Familie Mensch für Mensch wächst. Denn von Anfang an hatte Gott die Beziehung mit dem Menschen auf dem Herzen. Und nur in dieser Beziehung komme ich zur Ruhe, kann ich Gott anbeten und ihm die Ehre geben, die ihm zusteht. Weil er Gott ist  und weil er alles gegeben hat, damit diese Beziehung wieder heil wird.