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© Eric Ward / Unsplash.com

09.04.2020 / Interview / Lesezeit: ~ 11 min

Autor/-in: Rebecca Schneebeli

Lern mit mir zu streiten!

Konflikte bringen Beziehungen weiter, doch eine gute Streitkultur fällt nicht vom Himmel.

Streiten will gelernt sein. Das haben auch Frauke und Tobias Teichen gemerkt. Sie sind Leiter und Gemeindegründer der ICF Kirche München. Als die beiden heirateten, mussten sie zunächst lernen, mit ihren unterschiedlichen Konflikttypen umzugehen. Was es bedeutet, wenn ein Dynamitbündel und ein Staatsanwalt im Streit aufeinandertreffen, davon berichten sie in Ihrem Buch „Bäm! Keine Angst vor Konflikten“. Sie sind überzeugt: Konflikte gibt es überall, auch bei Christen. Aber man kann lernen, besser mit ihnen umzugehen. Wie das geht, erklären sie im Interview mit Stefan Loß. Zum ersten Teil des Interviews mit Frauke und Tobias Teichen.
 

ERF: Herr Teichen, Sie sind Theologe und Pastor. Was sagt eigentlich die Bibel zum Thema Konflikte und zum Umgang damit?

Tobias Teichen: Es fängt erstmal damit an, dass die Bibel aufzeigt, dass Konflikte normal sind. So verstehe ich auch die Briefe von Paulus. Wenn man sich die durchliest, merkt man: Es gab schon immer Konflikte, auch in den ersten Kirchen. In den Briefen an die Gemeinden, aber auch in den Geschichten von Jesus, ja schon auf den ersten Seiten der Bibel gibt es Konflikte – von der ersten bis zur letzten Seite. Das ist normal, denn Christen sind in erster Linie Menschen. Und da menschelt es vorne und hinten. Dass man den Glauben hat, hilft einem höchstens, andere Lösungen zu finden. Die Bibel malt aber kein Bild a la „Als Christ bist du perfekt und dann gibt es keine Konflikte“, sondern bezeugt vielmehr: „Als Mensch hat man Konflikte.“

Das Zweite ist, dass die Bibel immer wieder die Gottesbeziehung mit zwischenmenschlichen Beziehungen vergleicht. Der Sinn des Lebens ist simpel: Gott, meinen Nächsten und mich selbst zu lieben. Das ist das Gebot der Liebe. Aber die Realität ist – und das zeigt die ganze Bibel –, dass wir das nicht schaffen. Wenn ich Gott nicht liebe, halte ich seine Gebote nicht, das heißt: Ich misstraue ihm. Wenn ich mich selbst nicht liebe, fange ich an, Dinge zu tun, die destruktiv sind und mich zerstören. Und wenn ich meinen Nächsten nicht liebe, werde ich Dinge denken, tun und sagen, die unsere Beziehung zueinander zerstören.

Deshalb ist Jesus am Kreuz gestorben, weil wir alle immer wieder diese Momenten erleben, in denen wir Vergebung und Versöhnung brauchen. Die gute Nachricht ist die: Gott geht nicht davon aus, dass wir perfekt sind, sondern ganz im Gegenteil. Deshalb gibt es Jesus.

Wir brauchen die Vergebung, die Jesus uns anbietet –zwischenmenschlich, aber auch in unserer Beziehung mit Gott und uns selbst. – Tobias Teichen

Christen können nicht besser streiten

ERF: Können Christen also besser mit Konflikten umgehen als andere Menschen?

Tobias Teichen: Ich würde es andersherum sagen: Wenn Christen sich nicht bewusst sind, dass sie das Kreuz selbst dringend brauchen, sondern es eher für andere Leute anwenden, sind sie die schlechtesten im Umgang mit Konflikten. Wenn ich nicht verstehe, dass ich jeden Tag Vergebung, Heilung, Veränderung und Neustarts brauche, heißt das, dass ich tendenziell sehr schlecht mit Konflikten umgehe. Meiner Erfahrung nach kann man das auch gar nicht in Christ und Nichtchrist einteilen, sondern es gibt Leute, die haben mehr göttliches Beziehungsknowhow von zu Hause mitbekommen, auch wenn es Atheisten sind. Es kann sein, dass jemand christlich aufwächst, aber nicht weiß, wie man sich gegenseitig praktisch vergibt. Nur weil ich Christ bin, kenne und weiß ich diese Dinge nicht automatisch, sondern auch als Christ habe ich trotzdem meine Baustellen. Aber das ist für mich die gute Nachricht, dass ich täglich neu anfangen kann.
 

ERF: Wenn ich mir jetzt christliche Gemeinden anschaue, fehlt mir da oft diese Kompetenz, Konflikte in Beziehungen anzusprechen. Woran liegt das?

Tobias Teichen: Eigentlich sind die Vorgaben supergut. Jeder, der vor den Traualtar tritt, sagt den Satz: „Ja, mit Gottes Hilfe.“ Ich schlage da aber mal ganz frech vor: Lasst uns mal eine Umfrage machen mit einem Brautpaar und sie fragen: „Was heißt das für euch? Was heißt das im Streit, was heißt das, wenn du in der Beziehung nicht weiter weißt? Was heißt das bei Verletzungen?“ Wir benutzen als Christen relativ schnell Worthülsen und können diese manchmal gar nicht füllen. Und davon dass ich in die Kirche gehe, ändert sich erst mal auch nichts. Wenn mir die Paulus-Briefe angucke, gab es damals in der Kirche genau die gleichen Probleme wie außerhalb der Kirche. Ich sage immer: Die Kirche ist genau gleich wie die Welt, man hat nur theoretisch die Chance, mit Gottes Hilfe vorwärtszugehen, wenn man sich damit auseinandersetzt: Wie kann mir Gott im Konflikt helfen? Die Kirche ist genau gleich wie die Welt, man hat nur theoretisch die Chance, mit Gottes Hilfe vorwärtszugehen, wenn man sich damit auseinandersetzt: Wie kann mir Gott im Konflikt helfen?

Streiten muss man lernen

ERF: Sie beide trauen auch Ehepaare. Wie gehen Sie da mit dieser Formel um? Nutzen Sie eine andere Formel, um es plastischer zu machen?

Frauke Teichen: Uns ist sehr wichtig, wie Leute vorbereitet werden auf die Ehe. Wir haben verschiedene Seminare oder Workshop-Angebote, in denen es um Themen geht wie Kommunikation. Dort lernen Paare, wie wichtig es ist, den anderen wirklich zu verstehen. Wir trainieren das, indem der eine wiederholt, was der andere sagt, und ihn dann fragt: „Stimmt das so?“ Dann kann der andere sagen: „Ich habe es eigentlich ganz anders gemeint.“ Wir versuchen, Menschen wirklich auszubilden. Sie sollen trainieren, konstruktiv mit Konflikten umzugehen. 

Tobias Teichen: Ich glaube, wir haben uns in den deutschen Kirchen eine Kultur antrainiert, die nicht biblisch ist. Wenn ich in irgendeinem Bereich erfolgreich sein will, suche ich mir einen Coach oder Mentor, irgendjemand, der das schon länger macht und mir weiterhelfen kann. Ich besuche Schulungen und investiere mich, weil ich besser werden will. Bei Beziehungen und Familie sind wir dagegen der Meinung: Ich rede mit keinem darüber, denn es ist persönlich. Und ich suche mir erst dann einen Coach, kurz bevor ich mich scheiden lasse. Das hieße im Jobvergleich: Ich hole mir noch schnell einen Coach, bevor ich gekündigt werde.

Genau über die komplexesten Themen, nämlich die Beziehung zwischen Mann und Frau, reden wir nicht authentisch und ehrlich. Dadurch entsteht die Lüge: „Nur wir haben Probleme. Nur wir können nicht streiten.“ – Tobias Teichen

Wir versuchen da proaktiv an einer anderen Kultur zu arbeiten. Einer, die offen, ehrlich und mit Humor dieses Thema betrachtet. Es ist sehr wichtig, jungen Paaren in der Ehe-Vorbereitung dieses andere Denken mitzugeben. Es ist aber auch aufwändig, denn dieser Gedanke „Darüber redet man nicht“ ist ganz tief in ihnen verankert.
 

ERF: Wie lernen Sie selbst noch mehr in diesem Bereich?

Frauke Teichen: Ich lerne gerne am Modell. Ich liebe es, wenn ich ein Vorbild habe, also jemandes Verhalten beobachten, mich mit anderen treffen und austauschen kann. Wir haben viele Ehepaare, mit denen wir uns gerne und oft austauschen. Wir fragen dann: „Wie lebt ihr das?“ Auch haben wir uns vorgenommen, jedes Jahr ein Seminar oder einen Workshop zu besuchen, um uns zu inspirieren und unser eigenes Knowhow frisch zu halten. Das sind Tools, die wir nutzen und die uns wichtig sind.

Streiten, um sich zu verstehen

ERF: Jeder hat ja sein eigenes Konfliktverhalten. Kann man das verändern oder wird es immer so bleiben und ich muss mich damit dann eben abfinden?

Tobias Teichen: Die gute Nachricht ist: Mit Gottes Hilfe ist überall Veränderung möglich. Der Beginn ist, dass ich überhaupt merke: „Meine Wahrnehmung ist subjektiv und mein Verhalten ist ausbaufähig.“ Das ist bei jedem Menschen so, egal wer da aufeinander trifft. In der Ehe kommt man sich so nahe, dass es solche Dinge in einem triggern oder verstärken kann. Durch meinen Partner habe ich einen Spiegel bekommen, was ein Geschenk und gleichzeitig sehr unangenehm ist. Erst dadurch kann ich meine Muster überhaupt erkennen. Sonst sind die mir vielleicht gar nicht bewusst, weil sich eventuell alle in meiner Familie so verhalten. Aber auf einmal merke ich: „Ich habe ein Muster, das destruktiv ist.

Gegen solche destruktiven Muster hilft, ehrlich zu sein und andere Leute miteinzubeziehen und als Paar zu überlegen: Wie können weitere Schritte aussehen? Der Staatsanwalt zum Beispiel hat gute Argumente, aber ich muss an den Punkt kommen: „Will ich gewinnen im Streit oder will ich mich versöhnen?“ Das ist ein großer Unterschied. Wenn ich gewinnen will, werde ich weiter meinem Reflex folgen. Wenn ich mich versöhnen will, muss ich mich bremsen oder den Streit sogar stoppen, weil weiteres Argumentieren uns nur in eine Sackgasse reinbringt. Das gleiche gilt beim Thema Emotionen. Wir haben uns für jede Situation einen „Next Step“ überlegt. Heute ist es so: Wenn Frauke merkt, dass die Emotionen während eines Streits zu stark sind, sagt sie mir deutlich, dass wir jetzt einen Break machen müssen. Das nennen wir Exit-Strategie.

Der Streit ist ja eigentlich der Versuch dass man sich versteht, wenn man es mal so übersetzt. – Tobias Teichen

ERF: Das heißt: Wenn man sich nicht streitet, ist der andere einem eigentlich egal?

Tobias Teichen: Oft vielleicht schon. Streit heißt eigentlich: Ich fühle mich nicht gesehen. Unterm Strich ist Streit also auf sehr kranke Art ein Liebesbeweis. Denn wenn du mir egal wärst, würde ich nur sagen: „Was ist das denn für ein Pfosten!“ Aber sobald du mir wichtig bist, fange ich an im Streit zu kämpfen. Aber genau dann passiert es schnell, dass man als Paar in eine Sackgasse reingerät. Man streitet sich und weiß irgendwie gar nicht mehr genau, um was man sich streitet.

Man kommt nicht mehr voran und will sich eigentlich nur versöhnen. Wenn das geschieht,  ist es gut, einen Stopp zu setzen. Deswegen haben wir geheime Zeichen für diese Phase ausgemacht, also hissen quasi die weiße Fahne. So drücken wir aus: „Ich habe mich verrannt. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich kann jetzt auch nichts mehr sagen. Ich mag dich eigentlich.“ Dann setzen wir auf der Grundlage noch mal neu an. Das haben wir früher nicht gemacht. Früher haben wir uns so lange festgefräst, bis alles verloren war.

Frauke Teichen: Ich finde auch, man kann die unterschiedlichen Persönlichkeiten konstruktiv oder destruktiv einsetzen. Durch dieses Dynamitmäßige spüre ich auch einfach viele Dinge und kann ganz oft auch Dinge ansprechen, die Tobi gar nicht mitkriegt, die aber trotzdem zwischen uns stehen. Dadurch kann man sich das dann konstruktiv angucken. Auch im Bereich der Sexualität kann es ja sein, dass man merkt: „Ich fühle mich dir nicht nahe. Etwas steht noch zwischen uns.“ Ich spüre sowas oft und kann dann ansprechen, was vielleicht dahintersteckt. Dann können wir den Konflikt lösen.

Seine eigene Persönlichkeitsstruktur kann man entweder nutzen, um zu zerstören oder um Nähe zu schaffen. – Frauke Teichen

Den Autopiloten austricksen

ERF: Es geht also ganz grob gesagt um die Einstellung dem anderen gegenüber?

Tobias Teichen: Im Endeffekt läuft unbewusst ein Autopilot bei jedem von uns ab, der uns sagt: „Ich muss gewinnen im Streit.“ Unterm Strich aber will keiner recht haben, sondern sich eigentlich versöhnen. Unterm Strich will ich gesehen werden. Hinter einem Streit steckt oft: Ich fühle mich nicht gesehen, ich fühle mich nicht geliebt, ich fühle mich abgelehnt. Eigentlich will ich also Nähe haben. Und noch mal zu der Exit-Strategie: Gut ist es, bei einem Stopp, wenn jeder eine halbe Stunde etwas für sich macht. Der eine geht an den Boxsack, der nächste rennen, ein anderer spazieren.

Frauke Teichen: Ich stelle mich oft vor den Spiegel, schaue da rein und sage: „Jesus schau mich an. Was würdest du jetzt machen?“ Das ist für mich so ein Moment, wo ich mir denke: „Ja, mit Gottes Hilfe, was heißt das eigentlich?“ In solchen Situationen brauche ich oft Gottes Hilfe und sage dann: „Du hast den Tobi so gemacht, wie er ist. Bitte hilf mir jetzt!“ Einmal stand ich vor dem Spiegel, habe mich angeguckt und mir gedacht: „Ich bin im Recht und der Tobi ist so ein Depp.“ Dann habe ich gesagt: „ Jesus was würdest du jetzt machen?“ Mir war, wie wenn Gott zu mir sagte: „Du gehst jetzt raus und du massierst den Tobi.“ Ich habe gedacht: „Was? Ich massiere den doch jetzt nicht!“ Das wollte ich auf gar keinen Fall. Da ist dann die Frage: Kann ich mich für das Gute entscheiden?
 

ERF: Warum ist es so wichtig, sich zu streiten, wenn man in einer Beziehung ist, aber auch sich gut zu streiten?

Frauke Teichen: Um sich besser zu verstehen. Für mich hat das ganz viel mit Kennenlernen zu tun. Bei jeder Person, mit der ich mich streite, habe ich das Gefühl: Nach einem Streit kenne ich sie besser als vorher und verstehe besser, wie sie tickt und warum ihr bestimmte Dinge wichtig sind. Für mich sind diese Streits kostbar. Wir haben vor einiger Zeit ein Buch von einem amerikanischen Pastor gelesen, der von schwierigen Lebenssituationen erzählte und im Rückblick schrieb: Er würde liebend gerne auf jede dieser Herausforderungen verzichten, aber er wolle um keinen Preis auf das verzichten, was er dadurch gelernt hat. So ähnlich geht es mir mit dem Thema Streit. Im Streit ist es bescheuert, man verletzt sich und es ist anstrengend; aber unterm Strich hat man sich besser kennen und lieben gelernt.

Tobias Teichen: Erfahrungsgemäß ist es so: Jeder Konflikt, den man nicht angeht, ist wie ein Misthaufen, der wächst. Das kann man machen und der Reflex ist ja auch meist: „Mir ist das zu anstrengend. Schwamm drüber, Glas Wein trinken, passt schon.“ Aber wenn dieser Misthaufen zu groß wird, erstickt er die Liebe. Das ist irgendwann überall so. Das Gegenteil ist ein geklärter Konflikt. Ein geklärter Konflikt ist wie ein Fundament, auf das man aufsetzen kann, weil man sich besser versteht. Deswegen lohnt es sich, einen Konflikt wirklich zu klären, auch wenn es anstrengend ist. Das habe ich beim Heiratsantrag deswegen ja auch so gemacht, weil ich mir gedacht habe: Das ist so eine große Investition, das sollte sich auch lohnen.

Ein geklärter Konflikt ist wie ein Fundament, auf das man aufsetzen kann, weil man sich besser versteht. Deswegen lohnt es sich, einen Konflikt wirklich zu klären, auch wenn es anstrengend ist. – Tobias Teichen

ERF: Herzlichen Dank für das Interview.


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 Rebecca Schneebeli

Rebecca Schneebeli

  |  Redakteurin

Sie schätzt an ihrem Job, mit verschiedenen Menschen und Themen in Kontakt zu kommen. Sie ist verheiratet und mag Krimis und englische Serien.

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