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© Soroush Karimi / unsplash.com

21.02.2011 / Kommentar / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Michael Gerster

Wenn Christen nicht mehr glauben können

Zweifel, enttäuschte Erwartungen, Schicksalsschläge: Es gib viele Gründe, weshalb sich Menschen vom Glauben abwenden. Eine Spurensuche.

Ich habe es mehr als einmal erlebt. Menschen mit einem Glauben, der andere ansteckt, wenden sich plötzlich ab. Manchmal heimlich still und leise, manchmal mit Gepolter und Getöse. Manchmal scheinbar von einem Tag auf den anderen, manchmal nach einem langen Kampf zwischen Glauben und Zweifeln.

Glaubt man aktuellen Statistiken aus Amerika, so handelt es sich dabei um keine Einzelfälle. Laut einer Statistik der amerikanischen Barna-Group ziehen sich 80 Prozent aller Jugendlichen aus den Kirchen und Gemeinden zurück, in denen sie groß geworden sind. Und das spätestens bis zum 30. Lebensjahr.

Bekehrung oder Nachfolge?

Der Vorsitzende von Barna-Group, David Kinnaman, stellt in seinem Buch „unChristian“ fest, dass 65 Prozent (!) aller Amerikaner zwischen 18 und 41 von sich sagen, dass sie mindestens einmal in ihrem Leben eine Entscheidung für Jesus Christus getroffen haben. Trotzdem hätten nur 3 Prozent von ihnen ein biblisches Weltbild. Zwar bedeute dies nicht, dass rund 63 Prozent der jungen Amerikaner Menschen sind, die sich vom Glauben abgewandt haben. Aber zumindest werde deutlich, dass das Thema Abkehr vom Glauben nicht das Thema einer Minderheit ist.

Und gleichzeitig könnten diese Zahlen helfen, zumindest einem der verschiedenen Gründe auf die Spur zu kommen, warum sich Menschen vom christlichen Glauben abwenden: Nämlich der Reduzierung mancher evangelistischer Verkündigung auf einen einzigen, heiligen Moment der Bekehrung. Im Klartext: Reden und predigen wir vielleicht zu oft von Errettung als Endziel des christlichen Glaubens? Was ist mit der Nachfolge? Was mit dem Thema Heiligung? Kann man Bekehrung und Nachfolge überhaupt voneinander trennen?

Ohrfeige für Glaubenszweifel

Doch es gibt weitere Gründe, warum Menschen ihren Glauben aufgeben oder anders glauben. Viel scheint damit zusammenzuhängen, wie Christen mit den Geschwistern umgehen, die immer wieder Zweifel haben. Mag man sich um Suchende noch bemühen, um ihnen Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, so sieht das unter Umständen bei Mitchristen ganz anders aus.

Dies war zumindest einer der Gründe, die der amerikanische Autor Drew Dyck ausgemacht hat. Er ist Autor des Buches „Generation Ex-Christian: Why Young Adults Are Leaving the Faith … and How to Bring Them Back“ (Generation Ex-Christ: Warum junge Menschen dem Glauben den Rückenkehren und wie man sie zurückbegleiten kann). In zahlreichen Interviews mit Aussteigern ist er den Ursachen für ihre Abkehr von Glaube und Gemeinde auf die Spur gekommen. Dabei ist ihm aufgefallen, wie wichtig ein offener und entspannter Umgang mit Zweifeln ist. Gerade hier tun sich manche Christen – vor allem Eltern und Gemeindemitarbeiter – schwer. In einem besonders krassen Fall erhielt eine Frau sogar eine Ohrfeige für ihre geäußerten Glaubenszweifel.

Gesprächskreise für Zweifler

Ich glaube, es fällt schwer, die Zweifel anderer auszuhalten. Vielleicht, weil sie auch den eigenen Glauben in Frage stellen. Im Interview mit ERF Medien plädiert Drew Dyck dafür, in Kirchen und Gemeinden eine Kultur zu schaffen, in denen man angstfrei und offen über Glaubenszweifel sprechen kann. Denkbar wäre zum Beispiel ein Gesprächskreis für Menschen mit Zweifeln. Klassische Zielgruppenangebote in Kirchen und Gemeinden richten sich in der Regel an Altersgruppen. Es gibt Kreise für Senioren, Kinder, Jugendliche. Warum nicht auch für Menschen, die sich intellektuell mit dem Glauben auseinandersetzen möchten und müssen, weil sie eben Vieles hinterfragen und ehrlich mit ihren Fragen umgehen wollen?

Wie wichtig ein offener Umgang mit Problemen in Gemeinden, aber auch mit sich selbst ist, zeigt das Buch von Tom Bisset „Warum jemand nicht mehr glauben kann“. Einen der Hauptgründe für die Glaubensabkehr sieht er in enttäuschten Erwartungen. Weil zum Beispiel in einer Gemeinde mit unterschiedlichem Maß gemessen wird oder weil gerade Menschen mit hohen Idealen und Engagement mitunter verheizt werden - wenn auch nicht immer bewusst. Bisset führt noch andere Gründe auf, entscheidend für ihn ist dabei vor allem der Lernfaktor. Wenn Christen verstehen, warum sich andere vom Glauben wieder abwenden, können sie daraus viel lernen: Für den Umgang miteinander, für die Erziehung, aber auch für den Umgang mit sich selbst.

Wenig Zahlen in Deutschland

In Deutschland gibt es verhältnismäßig wenig Literatur und noch weniger Zahlen zu dem Thema. Aber es gibt einen Namen für den Prozess der Abkehr vom eigenen Glauben: Dekonversion. Von 2005-2009 hat der Bielefelder Wissenschaftler Prof. Dr. Heinz Streib im Rahmen einer kulturübergreifenden Studie narrative Interviews mit 100 Dekonvertiten geführt (50 davon aus den USA, 50 aus Deutschland).

Bei dieser Studie ist der Herkunftsglauben immer der Ausgangspunkt für eine mögliche Dekonversion. Das kann also der muslimische Glaube sein, von dem man sich abkehrt genau so sein wie der evangelische Glaube. Entscheidend ist, dass eine andere Form von Glauben gewählt wird als der bisher gelebte. Dekonversion bezeichnet dann auch den Prozess eines Menschen, der kirchlich sozialisiert ist, aber durch ein „klassisches“ Bekehrungserlebnis, eine Lebenskrise oder ähnliches eine plötzliche Hinwendung zu einer freikirchlich-evangelikalen Kirche macht.

Lebenslange Suche

Die Studie benennt vier verschiede Typen von Dekonvertiten. So gibt es zum Beispiel den Typus des jungen Erwachsenen, der den Glauben seiner Herkunftsfamilie als einengend empfindet und deshalb nach Autonomie strebt. Interessant ist vor allem der Typus des lebenslang spirituell Suchenden. Von ihm sagt die Studie, dass er „verschiedene religiöse Angebote ernsthaft ausprobiert und dann, etwa im höheren Erwachsenenalter, eine Revision seiner religiösen Mitgliedschaft erwägt und davon erwartet, dass die spirituelle Suche an einem Ziel ankommt“. Gerade im Hinblick auf diesen letzten Typus frage ich mich, wie offen wir für Menschen in unseren Gemeinden sind, die trotz Bekehrung und Taufe weiter auf der Suche sind.  

In der Apostelgeschichte wird die neue Glaubensrichtung der Jünger Jesu an verschieden Stellen als „Der Weg“ bezeichnet. Das macht deutlich, dass selbst die ersten Christen keine fertige Dogmatik im Marschgepäck hatten, sondern Zeugen des lebendigen und auferstandenen Gottessohns waren. Was das für die unterschiedlichen Fragen des Leben und des Glaubens bedeutete, musste erst im Hinblick auf die unterschiedlichen Herausforderungen des Alltags und der Verkündigung entfaltet werden. Ich frage mich, ob wir manchmal - gerade in evangelikal geprägten Gemeinden - zu schnell alle Antworten parat haben. Wenn jemand den Verlust des eigenen Kindes beklagt und betrauert, dann mag der Satz „Sie ist jetzt beim Herrn“ theologisch richtig sein - aber falsch, wenn wir an Jesu Gebot denken, unseren Nächsten so zu lieben, wie uns selbst.

Ich glaube, dass wir viel lernen können von Menschen, die sich bewusst und plötzlich oder auch schleichend und langsam von uns verabschiedet haben. Die Gründe, warum sie gegangen sind, könnten eines Tages meine eigenen sein. Und es könnten dieselben Gründe sein, die es manchen Menschen schwer machen, überhaupt den ersten Schritt des Glaubens zu wagen.

Wenn wir wirklich verstehen wollen, warum sich Menschen vom christlichen Glauben abwenden, müssen wir vor allem eins tun: Erst einmal lange zuhören. Dazu will diese Themenreihe ermutigen. Und erst in einem zweiten und letzten Schritt geht es dann in dem Artikel "5 Leitfragen für Kirchen und Gemeinden" um die Frage: Wie muss sich Kirche verändern, damit sich Menschen dort mit ihren Fragen, Zweifeln und Lebensbrüchen zu Hause fühlen?

Ihr Kommentar

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Kommentare (29)

Alex V. /

ich habe keine Buße getan auf mein versagen

Rüdiger K. /

Ich bin selbst durch das Missionswerk Heukelbach aus Bergneustadt mit 34 Jahren während einer Zeltmission zum Glauben gekommen - vor 45 Jahren. Dabei ist die jeweilige Befindlichkeit - je nach mehr

Gast /

Weil Christen nicht mehr nach der Bibel leben, bzw. nicht mehr das lehren und leben was drin steht. Es geht immer um die Erlösung von der Sünde, und dem ewigen Leben bei Gott.
Jesus sagte damals: "Wenn ihr nicht glaubt das ich es bin, dann werdet ihr in euren Sünden sterben!"

Petra S. /

Auch ich habe zuerst die evangelische Kirche und dann nach 12 Jahren die Pfingstler verlassen.
Aus der Ferne beobachte ich immer noch Christen im allgemeinen. Viele Evangelikale lehnen in mehr

Ditta S. /

Aus der kath. Kirche raus und zu den völlig abwegigen Lehren und Dogmen der sogen. "bibeltreuen Christen" - was Schlimmeres ist mir im Leben noch nicht begegnet - wie diese Fundamentalisten, die sich mehr

Ostrogoth /

Europa hatte bereits einen Glauben. Die alten Götter (Odin, Thor, Zeus, Mars usw. ). Sie waren vital und viril. Das Christentum mit seinem toten Gott war und ist ein Usurpator. Der Islam seinerseits usurpiert das Christentum.

Bernd H. /

Alle Weltreligionen sind von Menschen niedergeschrieben worden - und der Mensch hat schon manche "fake news" zusammengebastelt- Als ich das e-book "Glauben vs. Religion " von Mike Mikes gelesen habe, bin ich vom Glauben abgefallen! - Glauben heißt nicht wissen wollen.

Thomas 55 /

Glaube kann auch durch Lebensumstände verloren gehen, beispielsweise durch Krankheiten. Hier sind Menschen verzweifelt. Es

Thomas R. /

Könnte es vielleicht sein, das viele nie eine wirkliche Heilsgewissenheit haben oder mit der ständig schleichenden Angst Leben, dem Glauben abzuschwören, wenn es brenzlig wird und sie Gott aus dem mehr

Gast /

Ist doch logisch das viele vom Glauben abfallen.
Was ist denn Nachfolge und Glauben? Es bedeutet in der Liebe Gottes zu leben und diese auch weiterzugeben. Es gibt kaum Christen die das praktizieren, deshalb bekehrt sich auch niemand mehr.

Mustafa T. /

Also ich glaubte einmal das wenn ich mich taufen lasse danach ein suppermensch werde so wie die christen die ich sah aber ich merkte das sich nach der taufe nichts besonders ânderte nur das ich nach mehr

Die Redaktion /

Sehr geehrte Christa,
wir bedauern die schlechten Erfahrungen, die Sie gemacht haben. Ich weiß nicht, welche konkrete Form der Hilfe Sie gesucht haben. Allerdings sind wir ein Medienhaus und können mehr

Christa /

Oh doch, ich kann noch glauben. GOTT sei Dank. Aber woran ich NICHT mehr glaube, sind Christen, Gemeinden, was auch immer in der Richtung. Denn DIESE haben mich in den letzten Jahren NUR allein mehr

Onion Z. /

es gibt aber auch eine Art "Christen-Bashing", sodass man sich als Christ zuweilen ausgegrenzt vorkommt und alleine dieses bedrückende Gefühl verleitet vielleicht zum Austreten. Solche Ausgrenzung mehr

Martin M. /

Lasst mich bloss mit Religion in Ruhe!
Wir merken`s ja nicht mal mehr das wir voll religiös sind...
Ich gehe wieder zurück zum einfachen Glauben. Zuerst GOTT und ICH!!!

hulata /

Das Weltbild der Bibel, wenn man sie wirklich liest, muss nicht an Wissenschaft, sondern an Angst gemessen werden:
99% aller Christen gehen verloren, weil sie nicht tun, was der Herr will und heute mehr

Sandra /

Meiner Meinung nach sind zu viele Bücher geschrieben worden. Reicht denn die Bibel alleine nicht aus um Gemeinschaft zu halten und das Brot zu brechen?

Günter Weidt /

Zweifel sehe ich zur Zeit an allen Ecken und Enden. Da wird Gebetet, werden Erwartungen durch Gotes Zusagen immer größer. Aber leider verändert sich nichts, die Zusagen laufen ins Leere. Was kann ich mehr

Bernd Breuer /

Mir scheint es nicht unproblematisch, wenn man bei diesem Thema von US-amerikanischen Verhältnissen ausgeht. In dieser durch und durch religiösen Gesellschaft erwartet man es oft in bestimmten mehr

Rainer /

Evangelikales ist mir oft zu eng, zu gesetzlich (auch der spezielle Büchermarkt), oft zu politisch konservativ und manchmal auch schwarz-weiß-ideologisch! Dabei hatten wir im Jugendkreis früher noch mehr

Elfriede /

Nach über 20 Jahren Mitgliedschaft in mehreren Baptistengemeinden kam für mich 2008 der große Knall: Mal wieder wie eine Aussätzige behandelt, stand ich also davor, meinen Glauben restlos in den mehr

esther /

Ich bin sehr dankbar für das Thema- prägt es doch entscheidend meinen Lebenslauf.
Bei Altpietisten groß geworden, als Kind wollte ich immer gläubig sein und war immer verzweifelt, weil ich nie "gut" mehr

Gisela Banse /

Die Kirche verändern können solche Menschen, die in Ihrer TV-Sendung
" Hof mit Himmel "von ihrem neuen Leben mit Gott berichten.Dann wird die Kirche mit dem heiligen Geist erfüllt. Weil diese mehr

Thomas A. /

Wenn Christen nicht mehr glauben können. An was? Gott, Jesus oder an das Bodenpersonal (uns Menschen) oder an die Institutionen (Machtsysteme), die wir erschaffen haben. Ich denke, wir müssen sehr mehr

Niklaus /

Wie dankbar bin ich für diesen Artikel!
Nach vielen Jahren aktiver Mitarbeit, krachte alles zusammen. Auslöser gab es viele.
In meinem Tagebuch schrieb ich einmal: "Und wo in der ganzen Geschichte mehr

Heiko /

Auch ich habe viel Ablehnung in sogenannten christlichen Gemeinden aufgrund meiner Fragen erlebt.
-Thema Frau in der Gemeinde
-Thema Erwachsenentaufe
Liebevoll war der Umgang mit mir nicht. Aber mehr

Marianne Heyer /

Ich finde es gut, dass darüber gesprochen wird. Auch ich war 25 lang (nach dem freudigen Ereignis der Bekehrung) „gottesfern“. Der Druck in der damaligen Gemeinde wurde zu groß, ich wollte nicht mehr

Eva Fischer /

Vielen Dank für den offenen Artikel. Vor vielen Jahren bekam ich auf meine Zweifel nur Jak. 1,6+7 als Antwort. (...; denn wer zweifelt, gleicht einer Meereswoge, die vom Winde getrieben und hin- und mehr

Bernd Schneider /

Man könnte die Frage auch umkehren: warum bleiben so viele Christen dabei? Trotz Enttäuschungen mit anderen Christen, nicht erhörter Gebete, trotz der Leserbriefecke von "Idea-Spektrum", wo sich mehr

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