
29.07.2010 / Interview / Lesezeit: ~ 7 min
Autor/-in: Joachim BärGroßfamilie 2.0
Gemeinschaftliches Wohnen begegnet drängenden Problemen der Zeit. In Wetzlar entsteht ein Projekt mit christlichem Hintergrund. Ein Interview.
ERF.de: Herr Bednarz, gemeinschaftliches Wohnen erinnert manche an skurrile WG-Mitbewohner und nervende Nachbarn. Sie dagegen wollen bewusst zusammen wohnen und ein Stück weit Leben teilen. Warum?
Volker Bednarz: Weil wir uns gerade im Blick aufs Alter sehr viel davon versprechen. Wir Gründungsmitglieder sind im Moment in einer ähnlichen Altersstufe von ungefähr 50 Jahren. Die Kinder sind jetzt zwar aus dem Haus und man hat viele Freiräume. Man sieht jedoch fast wie ein Schreckgespenst das Altersheim auf einen zukommen.
Mittlerweile hat sich eine gute Zusammenarbeit mit der örtlichen Wohnungsbaugesellschaft ergeben, die der Bauträger für das Projekt sein wird und sich als solcher um die Fördermittel von Land und Stadt kümmert. Der frühstmögliche Einzugstermin ist Weihnachten 2011.
Wir wollen unser zukünftiges Leben so weit es geht selbst gestalten. Natürlich sind wir uns darüber im Klaren, dass man das im Alter unter Umständen nicht mehr kann und man auf Hilfe angewiesen ist. Genau diese Hilfe wollen wir im Vorfeld organisieren. Umgekehrt sehen wir viele junge Menschen, die z. B. bei der Kinderbetreuung Hilfe brauchen, da keine Großeltern greifbar sind. Deshalb wollen wir mit Jung und Alt eine Gemeinschaft bilden, in der man sich gegenseitig hilft und Verantwortung füreinander übernimmt.
ERF.de: Gegenseitig helfen: Was verstehen Sie darunter – und wie weit soll das gehen?
Volker Bednarz: Wir wollen so viel Nähe wie möglich aber auch so viel Freiraum wie möglich. Deshalb ist es uns ganz wichtig, dass jeder seine in sich abgeschlossene Wohnung hat. Wir werden nicht in einer Wohngemeinschaft mit nur einer Küche leben, diese Modelle gibt es ja auch. Bei uns wird jeder seine Rückzugsmöglichkeiten haben. Wir wollen uns vor allem in den niederschwelligen Angeboten helfen: Kinderbetreuung, Hausaufgabenbetreuung und Hilfe beim Einkaufen. Wir können und wollen uns aber im Pflegefall nicht gegenseitig pflegen. Hier ist die Grenze. Allerdings verpflichten wir uns, bei Bedarf für professionelle Hilfe zu sorgen.
ERF.de: Jeder kann für sich wohnen, es gibt aber gegenseitige Hilfe in Alltagsdingen?
Volker Bednarz: Ja, unbedingt. Natürlich wollen wir auch die Gemeinschaft stark fördern. Wir werden in unserem Wohnprojekt einen Gemeinschaftsraum mit Küche haben, wo man die Möglichkeit hat, zusammen zu sein und zu Essen, zu Feiern. Auch hoffen wir, einen gemeinsamen Fitnessraum zu bekommen, wo man zusammen etwas für den Körper macht. Wir haben auch vor, die Gartenanlagen gemeinsam zu pflegen – alles, was die Gemeinschaft fördert,wird bei uns großgeschrieben.
ERF.de: Den alltäglichen Problemen des Alters zu begegnen ist aber nur ein Teil Ihres Konzeptes. Sie wollen auch gesellschaftlichen Trends entgegenwirken, z. B. Egoismus und Vereinsamung. Wie wollen Sie das im Alltag umsetzen?
Volker Bednarz: Indem wir füreinander und für das gemeinsame Projekt Verantwortung übernehmen. Das heißt z. B., dass wir mit offenen Augen durch die Wohnanlage gehen und auf die Mitbewohner achten - wo wird Hilfe benötigt, wo ein gutes Wort, wen habe ich schon länger nicht gesehen, wo kann ich meine Fähigkeiten einbringen. Dabei wollen wir aber auch über den eigenen Tellerrand blicken und sehen, was z. B. in unserem Wohnumfeld gebraucht wird und wie wir uns dort einbringen können.
ERF.de: Wenn es gut läuft, wohnen einmal bis zu vier Generationen zusammen. Würden Sie sagen, hier kommt man über die Hintertreppe zurück zur traditionellen Großfamilie, nur ohne verwandt zu sein?
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Bild: privat. Gemeinsam statt einsam: Der Verein "Weiter Raum" |
Volker Bednarz: Heute vereinsamen viele Menschen, weil es diese Großfamilie fast nicht mehr gibt. Die Leute haben wenige Kontakte, weil keine Verwandtschaft da ist. Ganz offensichtlich kommen wir mit unserem Projekt zurück zur Großfamilie. Das kommt einigen wichtigen Bedürfnissen entgegen – allerdings mit einem großen Vorteil: Man ist zu nichts verpflichtet, wie das in einer Großfamilie der Fall sein kann. Wir werden eine freiwillige Großfamilie sein, die viel mehr Möglichkeiten hat. Wir können alles zusammen machen. Aber jeder ist auch frei zu sagen: Macht ihr nur, ich geh jetzt in mein Wohnzimmer, mach die Tür zu, lege mich auf die Couch und hab meine Ruhe.
ERF.de: Wer sich mit dem Thema auseinandersetzt, bekommt immer zu hören, dass sich die Gesellschaft demographisch wandelt und das gemeinschaftliche Wohnen Lösungsansätze für die zu erwartenden Probleme bietet. Welche Lösungen sehen Sie?
Völker Bednarz: Eine Hauptfrage ist sicher: Wie komme ich im Alter klar? In unserer Generation haben wir zum Teil Eltern, die Hilfe benötigen. Wir wohnen aber mehrere hundert Kilometer weit weg. Man kann als Kind diese Hilfe gar nicht mehr anbieten. Wir erhoffen uns deshalb von unserem Projekt, dass immer Leute da sind, die füreinander einstehen. Dass man z. B. fürden Mitbewohner einkauft oder mal miteinander plaudert oder im Gemeinschaftsraum miteinander spielt. Wir wollen die Vereinsamung im Alter aufbrechen und dafür sorgen, dass Menschen so lange es geht mit anderen Kontakthaben können.
ERF.de: Es geht also vor allem darum, Menschen verschiedener Lebenslagen zusammenbringen, die ansonsten wenig miteinander zu tun haben?
Volker Bednarz: Ja, wir wollen die gestressten, jungen Eltern mit den Rentnern zusammenbringen, die Zeit haben. Wie viele agile Alte gibt es, die in ihrem Wohnzimmer sitzen und nicht wissen, was sie machen sollen – und genügend Kraft und Freiraum hätten, sich um ein Kind zu kümmern – wovon sie selbst auch profitieren würden. Der Eine gibt etwas, wovon der andere profitiert. Und der gibt wieder etwas zurück.
ERF.de: Sie haben auch andere, schon bestehende Projekte besucht. Was hat Sie besonders beeindruckt?
Volker Bednarz: Ein Projekt, das wir besucht haben, hat uns gar nicht gefallen. Damals waren wir etwas frustriert und wussten: So wollen wir das nicht machen. Das hat aber aber hauptsächlich an der baulichen Umsetzung des Projekts und an den zu hohen Erwartungen Einzelner gelegen.
Ein anderes Projekt hat uns richtig begeistert. Hier haben wir erlebt: Es funktioniert wirklich. Wir haben ja im Moment noch keinerlei Erfahrung. Wir haben die Idee, von der wir begeistert sind, wissen aber noch nicht, wie das einmal sein wird, wenn man relativ eng aufeinander wohnt. Wir haben aber dort erlebt, wie 40 Menschen seit zwei Jahren zusammenleben und wirklich glücklich und fröhlich dabei sind. Die haben etwas ausgestrahlt. Das ist es, was uns fasziniert hat und was wir für uns natürlich auch wünschen.
ERF.de: Sie planen Ihr Angebot mit einem bewusst christlichen Hintergrund. Wie werden Sie sich von schon bestehenden Angeboten unterscheiden?
Volker Bednarz: Wir wollen uns gar nicht bewusst unterscheiden. Für uns hat es sich ergeben, dass wir Christen sind, die dieses Projekt initiieren. Natürlich wollen wir unser Christsein auch ganz bewusst leben. Wir wollen das aber nicht plakativ nach außen tragen, nach dem Motto: Hier dürfen nur Christen zusammen leben. Wir wollen eher missionarisch leben. Wir sagen: Wir sind Christen und jeder, der mit uns leben kann und der damit leben kann, dass wir bei gemeinschaftlichen Aktionen z. B. ein Tischgebet sprechen, ist herzlich willkommen. Wir wollen unser Christsein unverkrampft und offen leben, aber nicht zur Verpflichtung für jeden machen. Wir wollen einladend sein für den christlichen Glauben.
ERF.de: Was sich etwas allgemein anhört. Wie aber wird sich der christliche Hintergrund im Alltag niederschlagen?
Volker Bednarz: Wenn wir uns monatlich treffen, wird zum Beispiel ein geistlicher Input dazugehören. Wir werden miteinander beten und biblische Themen besprechen. Außerdem wollen wir sozial in unseren Stadtteil wirken. Wenn wir also konkret wissen, wo das Projekt gebaut wird, werden wir die Augen offen halten, was dort gebraucht wird: Nachbarschaftshilfe, Schülerhilfe, Kinderbetreuung, Altenbetreuung. Wir wollen also nicht nur für uns in unserem kleinen Kreis füreinander da sein, sondern auch nach außen wirken.
Außerdem wollen wir einen Raum der Stille schaffen. Wir haben einen Pfarrer in unserer Truppe, der von einem kleinen Kapellchen träumt, möglichst mit Glockenturm... Es wird also auf jeden Fall einen Raum der Stille geben, wo man noch eine zusätzliche Rückzugsmöglichkeit und geistliche Angebote hat.
ERF.de: Stellen Sie sich vor, es ist Ende 2011 und Sie sind eingezogen. Auf was freuen Sie sich am meisten?
Volker Bednarz: Ich freue mich natürlich auf eine schön gestaltete, neue Wohnung mit einem tollen Ausblick über Wetzlar. Am meisten aber freue ich mich, dass dann der erste Schritt in eine gemeinsame Zukunft getan ist. Auch freue ich mich auf das Miteinander. Wohl wissend, dass es Höhen und Tiefen auf dem weiteren Weg geben wird.
Und ich freue mich auf die weitere Entwicklung: Was werden wir daraus machen? Wie gehen wir miteinander um? Wie gestalten wir unsere Gemeinschaft und wie gehen wir mit unserem Stadtteil um? Und was machen wir mit unseren wertvollen Erfahrungen? Das wird noch richtig spannend.
ERF.de: Herzlichen Dank!
Weitere Infomationen:
- Webseite des Vereins: www.weiterraum.de
- Auf www.wohnprojekte-portal.de finden Sie einige Projektbeispiele und hilfreiche Informationen (Adressen, Veranstaltungen, Berater etc.)
- Buchtipp: "Raus aus der Nische - rein in den Markt", Herausgegeben von Schader-Stiftung und Stiftung trias, ISBN 978-3-932736-23-0, (bei Amazon bestellen)
Ihr Kommentar
Kommentare (5)
Ich finde das Projekt sehr interessant und könnte mir vorstellen, dort mitzumachen. Falls Sie einen E-Mail-Verteiler haben, können Sie mich gerne darin aufnehmen und mich regelmäßig informieren. Vielen Dank!
habe gerade mit großem Interesse den Artikel gelesen. Wie ist der aktuelle Stand? Wie kann ich darüber informiert werden?
Die angesprochenen Themen sind hochaktuell und werden immer wichtiger.
Ich freue mich sehr über diesen Artikel, weil ich darin erstmals von der Wohnform des gemeinschaftlichen Wohnens auf christlicher Grundlage (abgesehen von Klöstern, Lebensgemeinschaften usw.) lese. … mehrWie unter www.wohnprojekte-portal.de zu sehen, gibt es in Deutschland bereits ca. 300 unterschiedlichste Wohnprojekte, aber m. E. ohne erkennbaren christlichen Hintergrund.
Da meine Frau und ich auch an dieser Wohnform im Bodenseekreis interessiert sind, wäre es schön, wenn der ERF meine Emailadresse an Gleichinteressierte weiterleiten würde.
Danke für diesen Artikel. Auch ich bin Anf. 50 und mache mir so Gedanken wie wir die kommenden Jahre leben werden. Habe jetzt meine Mutter vor Augen, die mit 75 noch nicht aus ihrem Haus raus will, … mehraber gehbehindert ist. Das Trennen aus gewohnter Umgebung wird immer schwieriger.
An Irmi: ich freue mich für Sie. Es gibt schwierige Mütter und Schwiegermütter, schön, wenn es bei Ihnen gut klappt. Man kann gute Beispiele nicht genug bekannt machen.
Herzlich Grüße
Ulrike
Wir wohnen hier in der Großfamilie. Beide Kinder mit ihren Familien. Wir leben als 6 Erwachsene und 4 Kinder auf einem Grundstück (2 Wohnhäuser). Jede Familie hat ihre eigenständige Wohnung. Jede … mehrFamilie hat ein eigenes Gelände mit wenig Einblick von außen.Das klappt gut.
Von außen kommen die größten Störungen. Zu den Schwiegertöchtern sagt manche Freundin oder irgendjemand: Das kann doch nicht sein, dass man so lebt. Nein, mit den Schwiegereltern kann man nicht zusammenleben.
Selbst in der Zeitschrift Family gab es vor Jahren solche Äußerungen.
Die Vorteile einer solchen Lebensform sehen von außen nur wenige.