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© Lucas Sankey / unsplash.com

11.12.2015 / Interview / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Tanja Rinsland

„Meine Mutter wird sterben“

Markus Roll hat seine Mutter in den letzten 10 Wochen ihres Lebens begleitet.

Markus Roll ist Ende 30. Als selbständiger Buchautor und Theologe ist er ständig auf Achse und hat einen vollen Terminkalender. Doch als seine Mutter Irene ihm Anfang 2014 eröffnet, dass sie an Krebs sterben wird, sagt Markus Roll alle Termine ab und zieht zu ihr nach Lübeck. Er hat uns erzählt, wie er die letzten 10 gemeinsamen Wochen erlebt hat.


ERF: Nach zwei gescheiterten Chemotherapien entschloss sich Ihre Mutter Irene, keine weitere Behandlung zu machen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Markus Roll und seine Mutter Irene
Markus Roll und seine Mutter Irene

Markus Roll: Meine Mutter hat damals meine Brüder und mich zu sich gerufen und uns erzählt, dass die Ärzte ihr kaum Hoffnung auf eine Heilung machen konnten. Deswegen wollte sie sich nicht noch einmal der Tortur einer Chemotherapie unterziehen. Wir hatten gesehen, welche Nebenwirkungen und Schmerzen die Behandlung mit sich brachte, und wir konnten ihr nur zustimmen. Dass aber die Entscheidung, keine weitere Chemo zu machen, im Endeffekt bedeuten würde, dass sie stirbt – das ist mir erst später bewusst geworden.
 

ERF: Irgendwann kam aber der Anruf, dass der Krebs so weit fortgeschritten war, dass sie sterben würde. Daraufhin packten Sie Ihre Koffer, um nach Lübeck zu ziehen. Warum?

Markus Roll: Ich wollte den Abschied ganz bewusst erleben. Fast wissenschaftlich habe ich aufgeschrieben, was in mir vorgeht. Einmal für mich selbst, um später nachlesen zu können, was ich in der Zeit erlebt habe. Aber irgendwann hat meine Mutter auch gesagt, dass sie weniger Besuch bekommen will. Damit ihre vielen Freunde trotzdem auf dem Laufenden bleiben, habe ich angefangen, meine Aufzeichnungen in einem Onlineblog zu veröffentlichen.


ERF: Ab dann waren sie jeden Tag bei Ihrer Mutter, meistens mehrere Stunden am Stück. Wie haben Sie die gemeinsame Zeit gestaltet?

Markus Roll: Ich bin erst einmal in einen gewissen Aktionismus gestürzt. Ich habe ein weißes Blatt Papier und einen Stift gezückt und hab sie gefragt: „Liebe Mutter, was willst du noch erleben?“ Und dann haben wir eine Liste erstellt, doch leider sind wir nicht sehr weit damit gekommen. Schon nach 10 Tagen war es für sie nicht mehr möglich, das Haus zu verlassen. Sie war zu schwach.
 

ERF: Was haben Sie in diesen ersten 10 Tagen unternommen?

Markus Roll: Wir hatten Jahre zuvor einen Italiener entdeckt, und dort sind wir noch einmal hingefahren. Es war wunderbar. Sie hatte einen extrem guten Tag und es war fast wie früher. Da schien mir das alles noch so unwirklich. Doch schon beim nächsten Ausflug war es anders. Wir haben ein Treffen ihrer christlichen Gemeinde besucht. Sie saß im Rollstuhl und ihre Freunde standen vor ihr und wussten nicht, was sie sagten sollten. Und ich fragte mich, was ich da eigentlich mache.  Es ist so skurril, die eigene Mutter zu Freunden zu schieben, damit sie sich von ihnen verabschieden kann.

Und dann, als wir wussten, dass wir vielleicht nur noch einen Ausflug schaffen, nahm sie all ihren Mut zusammen und fragte mich ob wir ihren zukünftigen Grabplatz besichtigen können. Und ich dachte nur: „Das ist ja… was für ein schrecklicher Wunsch!“ Ich fragte sie, ob das wirklich sein müsste, doch es war ihr sehr wichtig. Da standen wir dann an ihrem Grab und sie sagte zu mir: „Das kann doch gar nicht sein, dass ich in ein paar Wochen hier verbuddelt werde.“ Ich habe sie gehalten, während sie weinte. Das  war so unwirklich. Danach fühlte sie sich aber besser, denn es half ihr, sich auf ihren Tod  vorzubereiten.


ERF: Über was redet man, wenn man weiß: uns bleibt nicht viel Zeit?

Markus Roll: Wir haben viel über die Vergangenheit gesprochen und oft über gemeinsame Erinnerungen gelacht. Wir wollten das Leben feiern, das Gott uns geschenkt hatte. Natürlich waren Gespräche über Glauben wichtig. Weil wir uns gefragt haben: „wie kann es sein, dass sie schon mit Anfang 60 sterben muss?“. Wir haben versucht, das theologisch zu erörtern und haben uns gegenseitig ermutigt, nicht daran zu zweifeln, dass Gott gut ist.

Wir haben viel über die Vergangenheit gesprochen und oft über gemeinsame Erinnerungen gelacht. Wir wollten das Leben feiern, das Gott uns geschenkt hatte.


 

ERF: Das klingt sehr abgeklärt. Haben Sie nie daran gezweifelt, dass Gott es wirklich gut mit Ihnen meint?

Markus Roll: Doch. An vielen Tagen war ich zornig auf Gott. Wenn ich bei ihr war, habe ich mich zusammengerissen. Sie hat am Anfang viel geweint und ich habe versucht, sie zu ermutigen. Aber ich hatte das Gefühl, dass mein emotionaler Tank immer leerer wurde. Dann bin ich ans Meer gegangen und habe geschrien, was ihm einfiele, so einen wunderbaren Menschen von der Erde zu nehmen, und wie ich das durchhalten sollte. Es war schwer. Manchmal hat man nur funktioniert.


ERF: Ihre Mutter war Christ. Hat der Glaube an Jesus ihr geholfen, mit der Situation umzugehen

Markus Roll: Da gab es ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Meine Mutter hatte Besuch von einer Freundin, die auch an Gott glaubt. Da erzählte uns diese Frau, dass sie an der Tür und an der Balkontür einen Engel sehen würde. Die Vision ihrer Freundin rührte meine Mutter zu Tränen, da es ihr das Gefühl gab, dass Gott sich um sie kümmere. Ich war - ehrlich gesagt - kritisch, hatte aber mal gehört, dass Kinder Übernatürliches anders wahrnehmen als Erwachsene. Als meine beiden Neffen also das nächste Mal zu Besuch kamen, fragte ich sie, ob sie etwas Ungewohntes in dem Raum sehen würden. Sie waren damals fünf und sieben Jahre alt. Und sie sagten: „Klar, hier ist das Bett, die Tür, der Stuhl. Aber an der Tür und an dem Fenster steht so eine Art Engel.“ Da bekam ich eine Gänsehaut, schließlich hatte keiner den Kindern davon erzählt. Daraufhin drehten sie sich zu mir um und fragten: „Warum? Siehst du sie nicht, Markus?“

Das Erlebnis hat mir den Glauben wiedergeben, dass Gott gut ist und dass er alles im Griff hat. Er hatte für meine Mutter auserkoren, dass die Zeit der Krankheit und der Herausforderungen für sie nun vorbei war.

Das Erlebnis hat mir den Glauben wiedergeben, dass Gott gut ist und dass er alles im Griff hat.


 

ERF: Nur wenige Wochen nach diesem Erlebnis ist Ihre Mutter im August 2014 verstorben. Nach so einer intensiven Zeit miteinander, wie haben Sie den Abschied erlebt?

Markus Roll: Die ersten Tage und Wochen habe ich das gar nicht realisiert. Und auch heute gibt es noch Momente, bei denen ich zum Telefon greife, um sie anzurufen. Zum Beispiel, wenn ich etwas Schönes erlebe, will ich das mit ihr teilen. Und dann merke ich: „Nein, das geht nicht mehr.“  Das ist immer noch schwer.
 

ERF: Und trotzdem haben Sie sich dieses Jahr an ein besonderes Buchprojekt gewagt: ein Trauerbegleiter für Männer, die ihre Mutter verloren haben. Wie kam es dazu?

Markus Roll: Ich habe ja über viele Wochen gebloggt, die letzten drei Wochen meiner Mutter täglich. Daraufhin ist der Buchverleger des Comtari-Verlags aufmerksam geworden.
 

ERF: Ein Verlag für Trauerbücher.

Markus Roll: Genau. Er meinte, er hätte noch nie einen jungen Mann erlebt, der sich so intensiv mit der eigenen Trauer auseinandergesetzt hätte. Er bat mich, ein Buch zu schreiben, in dem ich Dynamiken entwickle, die anderen Männern helfen, sich mit der Trauer um die eigene Mutter auseinanderzusetzen. Im Zuge der Recherche habe ich gelesen, dass viele Männer ihre Trauer vergraben und sich zum Beispiel lieber in Arbeit stürzen, um den Schmerz zu verdrängen. Deswegen ist der Fokus des Buches, dass Männer ermutigt werden, sich dem Verlust zu stellen.
 

ERF: Sie haben sich der Verlusterfahrung nicht nur gestellt, sondern sich sehr intensiv darauf eingelassen. Was ist Ihr Fazit aus dieser Zeit?

Markus Roll: Ich glaube mehr denn je, dass ich mich auch bei schlimmen Herausforderungen nicht von Gott abwenden muss, weil ich böse auf ihn bin, sondern mich bewusst an ihn wenden kann, weil er mir gerade dann helfen möchte. Auch wenn er sie, wie bei meiner Mutter, nicht wegnimmt. So sage ich heute: meine Mutter fehlt mir extrem, aber diese Zeit war ein Gewinn. Dieser Tod hat mir geholfen, intensiver zu leben und zu verstehen, wie kostbar dieses Leben ist. Und selbst wenn ich auch nur 60 Jahre alt werde, dann werde ich die Jahre, die vor mir liegen, viel intensiver gestalten als vor diesem Tod.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!

 

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Kommentare (1)

Peter /

Lieber Markus,
ich habe den Clip i, Youtube gesehen und ich habe Dich im Internet gesucht. Bin sehr froh das ich doch eine Möglichkeit zu Dir gefunden habe.
Ich weiss viel zu gut wie schwer es ist mehr

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