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© Samuel Zeller / unsplash.com

14.11.2008 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Erika Kochsiek-Sticht

Loslassen von Menschen, Orten, Zeiten, Träumen

Verlust-Erfahrungen und die damit verbundene Trauer sind untrennbar mit unserem Leben verknüpft.

„Unser Leben ist eine Summe von Trennungen, gewollten oder ungewollten, verschuldeten oder erzwungenen, heilsamen oder tragischen. Es ist ein immerwährendes Abschiednehmen und Loslassen von Menschen, von Orten, von Zeiten, von Idealen, von sich selbst.“

Dieses Zitat von Hans-Jürgen Schultz macht deutlich, dass Verlust-Erfahrungen und die damit verbundene Trauer untrennbar mit unserem Leben verknüpft sind.
 

Zur Trauer gibt es keine Alternative. Der Weg aus der Trauer führt nur durch sie hindurch. Zu trauern bedeutet, einen schmerzhaften, oftmals langwierigen Prozess auf sich zu nehmen. Es ist harte Arbeit, wenn der Trauernde sich bewusst und aktiv seinen Traueraufgaben stellt. Er ist genötigt, die schmerzliche Realität seines erfahrenen Verlustes zu akzeptieren, den Schmerz seiner Trauer zu durchleben und zu lernen, sein Leben mit dem erlittenen Verlust neu zu gestalten. Dies erfordert hohen seelischen, geistigen und körperlichen Einsatz.

Damit Trauern gelingen kann, brauchen wir genügend Zeit und Raum, angemessene Ausdrucksformen und die schützende Solidarität einer verständnisvoll tragenden Gemeinschaft.

Trauer braucht Zeit

Der Weg der Trauer verläuft nicht geradlinig und schematisch. Auch kann er nicht vorgeschrieben oder verordnet werden. Trauern ist ein sehr persönliches Geschehen, das jeder Mensch auf seine eigene Weise erlebt. Er selbst bestimmt den Zeitpunkt und das Tempo und findet den nächsten notwendigen und für ihn hilfreichen Schritt. Er spürt im Weitergehen die heilsame Kraft, die im Trauern liegt.

Der Umgang mit den so genannten Trauerphasen ist vielfach noch geläufig. Dabei kann ein falsches Bild entstehen. Sie lassen einen nach bestimmten Regeln verlaufenden Trauerverarbeitungsvorgang, als Maßstab für alle Trauernden vermuten. Wer ihn nicht durchläuft, trauert nicht richtig. Als allgemeine Orientierung für das, was mit einem Trauernden alles geschehen kann, kann ein schematischer Überblick sicherlich sinnvoll und hilfreich sein.

Der Trauernde darf nur nicht in dieses Schema gepresst werden. Es ist günstiger, von Traueraufgaben zu sprechen, weil sie einen bewussten und aktiven Prozess beschreiben und die Individualität des Trauernden berücksichtigen.

Trauer braucht Ausdruck

Die Gefühle eines trauernden Menschen sind vielfältig und haben ausnahmslos ihre Berechtigung. Oft hat der Betreffende den Eindruck, von einem Gefühlschaos überrollt zu werden, ist verwirrt und hilflos.

Ein Mensch, der solche Trauersituationen erlebt, wird in allen Bereichen seiner Persönlichkeit erschüttert. Sein psychischer und sein physischer Zustand sind gleichermaßen betroffen. Sein Seelenhaushalt gerät aus den Fugen. Verzweiflung, Angst, Wut, Zorn, Auflehnung, Schuldgefühle, Sehnsucht, Liebe und anderes mehr bestimmen sein Leben und beeinträchtigen sein emotionales, geistiges und körperliches Befinden.

Es ist notwendig, all diese unterschiedlichen Gefühle auszudrücken, eine Sprache für die Trauer zu finden. Nicht geäußerte Gefühle blockieren das Innere des Menschen, geäußerte Gefühle bringen die Trauer zum Fließen und strukturieren das emotionale Chaos.

Als Ausdrucksmöglichkeit eignet sich all das, was der Trauernde selbst als hilfreich empfindet. Manche Trauerereignisse lassen uns verstummen, wir finden keine Worte für das Unaussprechliche und Unbegreifliche. Auf kreative Weise können wir dann unsere Empfindungen malen und ihnen Form und Farbe geben, sie mit Ton gestalten, durch Musikinstrumente zum Klingen bringen oder in Körperbewegung ausdrücken.

Eine wesentliche Ausdrucksweise ist die Klage als sprachliche Form der Trauer. Dabei ist es wichtig, zwischen Jammern und Klagen zu unterscheiden. Das Jammern dreht sich gestaltlos und unproduktiv im Kreis. Der Jammernde will realitätsfern wie ein Kind das festhalten, was nicht mehr ist. Der Klagende dagegen stellt sich der schmerzlichen Realität und nimmt sie als unausweichlich an. In der Klage haben sämtliche Gefühle Raum und werden einem Gegenüber geklagt.

Die Klagetexte des Alten Testaments zeigen uns eindrücklich, wie der Mensch in seiner Klage vorbehaltlos alles vor Gott ausbreitet. Während des Klagens wandelt sich auf wunderbare Weise sein inneres Befinden, so dass am Ende das Lob und die Freude durchbrechen können.

Aber nicht nur die Psyche ist betroffen. Auch der Körper reagiert auf Verlust-Erfahrungen und Trauer: Ein trauernder Mensch zeigt vielfach Krankheitssymptome wie Konzentrationsmangel, Vergesslichkeit, Schlafstörungen, physische Schmerzen, Appetitlosigkeit, Antriebsschwäche, Erschöpfung und eine generell erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Er ist jedoch weder körperlich krank, noch ist sein verändertes Verhalten der Beginn einer psychischen Störung.

Trauer braucht Gemeinschaft

Der Trauernde benötigt Menschen, die bereit sind, sich ihm vorbehaltlos und liebevoll zuzuwenden. Wenn er den Boden unter den Füßen verliert und im Gewirr seiner Gefühle orientierungslos ist, kann die Gegenwart verständnisvoller Menschen ihn schützen und stützen, ohne ihn dabei zu entmündigen.

Eine hilfreiche Begleitung orientiert sich an den Bedürfnissen des Trauernden, ermutigt und bestärkt ihn in seinem Trauerprozess.

Wer einen trauernden Menschen begleitet, muss eine gestandene und in sich stimmige Persönlichkeit sein. Er sollte sein Gegenüber vorbehaltlos akzeptieren und sich flexibel auf ihn und seine Gestimmtheiten einlassen können. Dabei ist es wichtig, sich gut abzugrenzen und die eigene Identität zu bewahren.

Zur Trauer gehört auch der Trost, allerdings zur rechten Zeit, nicht vorschnell und unbedacht. Sonst wird aus gut gemeintem Trost ein Vertrösten. Der Trauernde wird nicht ernst genommen, sein Schmerz verharmlost. Wer wirklichen Trost spendet, hat den Trauernden im Blick und hält es bei ihm und mit ihm aus, auch ohne Worte. Er gibt Nähe und schafft damit eine Beziehung, die sich durch Vertrauen und Wahrsein auszeichnet. Trösten ist eine Gabe, mit der uns Gott befähigt, denn wir sind selbst Getröstete (2. Korinther 1,3 ff.).

Sind die förderlichen Bedingungen für das Trauern vorhanden, können wir also zu unserer Zeit, in unserer Weise, in der Gemeinschaft uns zugewandter und vertrauter Menschen trauern. Dann werden wir erleben, dass unsere Trauer nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende hat. Der heilsame Weg durch die Trauer mündet in ein Loslassen und Verabschieden dessen, was nicht mehr ist und nie mehr sein wird.

Dieses Loslösen von Vergangenem heißt, dass das Betrauerte zwar nicht mehr ein Teil unseres gegenwärtigen Lebens ist, jedoch in unserer Erinnerung den angemessenen Platz bekommt und unabdingbar zu unserer Lebensgeschichte gehört. Einen solchen gelungenen Abschied erfahren wir nicht als Niederlage. Wir gewinnen neue Kräfte, die uns helfen, uns unseren zukünftigen Lebensaufgaben zu stellen.

Fragen zum Weiterdenken

  1. Von welchen Menschen, Orten, Gewohnheiten und Lebenszielen mussten Sie bereits Abschied nehmen?
  2. Welche Gefühlsregungen und körperlichen Reaktionen haben Sie dabei an sich wahrgenommen?
  3. Welche Menschen und welche Ausdrucksformen haben Ihnen geholfen, das Loslassen zu bewältigen und neue Kraft zu gewinnen?

Quelle: füreinander 11/08, suchtprophylaktisch-evangelistisches Verteilblatt des Blauen Kreuzes in Deutschland e.V.

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Kommentare (4)

Katharina H. /

Vielen Dank für diesen Artikel, er hat mir sehr geholfen,
denn ich verstehe mich gerade nicht. Das haben Sie gut erklärt, in einer Trauersituation ist das so. Das beruhigt und tröstet mich.
Nochmals ganz herzlichen Dank

Annemarie S. /

Danke für diese trostvollen Worte!

Joachim /

So ist es!

Dorothea Reinhardt /

Der Beitrag trifft genau das, was ich schon miterlebt und mit getragen habe. Das Dasein für einen trauernden Menschen ist oft sehr wenig vorhanden. Bei meinem Vetter, der vor knapp einem Jahr seine mehr

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