/ Wort zum Tag
Unsere Vergänglichkeit
Alexander Nussbaumer über Psalm 90,10
Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.
In meinen vielen Jahren als Pfarrer habe ich wohl mehr als fünfhundert Menschen beerdigt. Und habe dabei oft den 90. Psalm mit unserm Tagesvers zitiert. Jeder Abdankung geht ein Trauergespräch mit den Angehörigen voraus. Das Gespräch begann meist bei der unmittelbaren Vergangenheit. Die Hinterbliebenen berichteten, wie sie den Abschied vom verstorbenen Menschen erlebt hatten. Mit der Zeit kam dann aber auch das nun abgeschlossene Leben als Ganzes zur Sprache. Oft war es kaum zu fassen, was da innerhalb einer halben Stunde an gesammeltem Elend auf mich niederprasselte. Schicksalsschläge wurden erwähnt, Abgründe taten sich auf. In solchen Fällen stimmte dann oft das Psalmwort: „Was an unserem Leben war, ist Mühsal und Trug.“ Ich hörte zum Glück auch andere Lebensläufe: von Menschen, die in den Grundlinien ein gelungenes Leben geführt hatten. Aber das war leider die Minderheit.
Unsere heutige Tageslosung ist weder miesepetrig noch depressiv, sondern schlicht realistisch: So mancher Lebenslauf ist schwer.
Viele Menschen unserer Tage neigen dazu, den Tod aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Im Sinne eines guten biblischen Ratschlages zitierte ich (oder: zitiere ich bis heute) bei Beerdigungen meist auch noch den übernächsten Vers nach unserer Tageslosung: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen.“
„Schnell ist unser Leben vorüber, im Flug sind wir dahin.“ Aus einer welt- oder gar erdgeschichtlichen Perspektive stimmt das natürlich. Unser Leben ist ein bloßer Hauch. Was sind schon acht-zig Jahre angesichts von Jahrhunderten und Jahrtausenden! Aber aus unserer eigenen, menschlichen Perspektive kann das Leben durchaus lange, sehr lange dauern. Das gilt – Gott sei Dank – für ein schönes Leben. Leider aber – Gott sei‘s geklagt – auch für ein schweres Leben. Als Jugendlicher hörte ich ältere Menschen oft sagen, das Leben sei so schnell vorbei gegangen. „Das will ich einmal nicht sagen, wenn ich alt bin!“, schwor ich mir und begann, ein Tagebuch zu führen. Heute, fünfzig Jahre später, ist das Tagebuch sehr umfangreich geworden. Ich bin Gott dankbar, dass ich auf ein reiches Leben zurückschauen darf, das nicht einfach schnell vorbei ging.
An unserm Tagesvers zeigt sich einmal mehr, dass Psalmworte Lebensworte sind, nicht Lehrsätze. Dass das Leben vor allem Mühsal ist und wie im Flug vorbeigeht, das stimmt für viele, aber nicht für alle Menschen.
Ich möchte das für mich so in einem Gebet ausdrücken: «Vater im Himmel, du bist der Herr über meine Lebenszeit. Lass mich diese Zeit im Vertrauen auf dich gestalten. Ich will dankbar bleiben für das Gute, das ich von dir erfahren durfte. Und ich will deinen Ratschlag beherzigen: Dass die Zahl meiner Tage auf dieser Welt beschränkt ist, will ich im Bewusstsein halten. Schenke mir ein weises Herz.»
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