/ Bibel heute
Hilferuf gegen Widersacher
Tilo Linthe über Psalm 70.
Von David, vorzusingen, zum Gedenkopfer. Eile, Gott, mich zu erretten, HERR, mir zu helfen! Es sollen sich schämen und zuschanden werden, die mir nach dem Leben trachten; sie sollen zurückweichen und zum Spott werden, die mir mein Unglück gönnen.
Probleme, Probleme
Tina möchte am liebsten schreien. Vor einer Woche war noch alles in Ordnung und jetzt liegt ihr Leben in Scherben vor ihr in Form diverser Briefe, die sie am liebsten zerreißen würde. Ihr Arbeitgeber hat ihr betriebsbedingt gekündigt. Man werde das Werk in Deutschland schließen und woanders hinziehen, wo die Energiekosten nicht so hoch sind. Am selben Tag kam der Brief vom Anwalt. Ihr Mann reichte die Scheidung ein. Okay, das kam nicht ganz so überraschend. Aber beide Briefe am selben Tag? Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Heute war sie beim Arzt und der hatte sie schon so komisch empfangen und wollte nicht recht mit der Sprache herausrücken. Schließlich sagte er: Bei der Untersuchung habe man etwas festgestellt, aber es sei noch nicht hundertprozentig sicher. Die Ultraschallbilder, die den Arzt so sehr beunruhigt hatten, liegen vor ihr auf dem Tisch zwischen den beiden Briefen. Sie starrt immer wieder darauf, kann aber beim besten Willen nicht sehen, was die Aufregung rechtfertigt. Aber sie ist auch keine Ärztin und die Abzüge wirken auf sie wie zufällig hingekleckste Grautöne.
Zugegeben, Tina gibt es nicht wirklich. Ich habe mir ihre Geschichte ausgedacht. Aber vielleicht kennen Sie jemanden, der solche Schicksalsschläge erlebt hat – oder Sie gehören selbst zu diesen unglücklichen Menschen?
Auch bei König David …
Exemplarisch für das Auf und Ab im Leben steht in der israelitischen Welt König David. Erst vielversprechender Hoffnungsträger am Hofe König Sauls, dann verfolgt und vom Tode bedroht. Er wird König und vergeht sich an der Frau seines Nachbarn. Später muss er vor seinem Sohn fliehen, der einen Putschversuch startet. Bei dieser Biografie ist es nicht verwunderlich, dass David Namenspatron vieler Psalmen ist – auch von Psalm 70. Trotz der vielen Licht- und Schattenseiten zeigen sie seine tiefe Beziehung zu Gott. Von IHM erwartet der sonst so pragmatisch veranlagte David Hilfe und Rettung. Die Ratlosigkeit und Verzweiflung springen einen aus diesen Zeilen regelrecht an und die Wut über schadenfrohe und sensationslüsterne Menschen. Psalm 70 ist ein Gebet um Hilfe in der Not.
Wo ist Gott in der Not?
Zyniker halten dem entgegen: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Dieses Sprichwort fragt indirekt, ob solche Gebete in der Not wirklich helfen – und diese Frage ist berechtigt. Sie sollte nicht zu schnell verneint werden. So erzählte ein alter Mann, nennen wir ihn Willi, wie er als Vierjähriger während des 2. Weltkrieges gebetet hat, dass seine Heimatstadt von den Fliegerbomben der Alliierten verschont bleiben möge. Leider war diese Stadt für den Kohleabbau und somit für den Krieg wichtig. Sie wurde in Grund und Boden gebombt. Kein Stein blieb auf dem anderen. Die Kindheit im Luftschutzbunker verbringend, fragte sich der junge Willi, wieso Gott seine Gebete nicht erhörte? Gebete haben vielleicht einen anderen Zweck, als unsere Wünsche zu erfüllen. Ich habe zum Beispiel eine Frau durch schwere Krankheit hindurch begleitet. Die Diagnose: Krebs. Der Tumor hatte bereits gestreut und lag so ungünstig, dass man nicht operieren konnte. Ich habe sie oft besucht. Zuerst zu Hause, dann im Krankenhaus und zuletzt im Hospiz. Zusammen mit ihrem Ehemann beteten wir jedes Mal, dass Gott heilend eingreifen möge. Das hat ER nicht getan.
Frieden, Geborgenheit und Hoffnung
Aber die Gebete haben trotzdem auf wundersame Weise gewirkt: Sie erzeugten einen Raum des Friedens und der Geborgenheit – und der Gewissheit, dass das Leben durch diese Krankheit nicht verloren ist. Für diese wertvollen Momente war es, als würde man der nasskalten Novembernacht entfliehen und eintreten in eine einladende Stube mit einem Kamin, der wohlige Wärme verbreitet. Dann ist sie gestorben, aber nicht allein und auch nicht hoffnungslos. Diese Erfahrung sagt mir, dass dieses Psalmgebet stimmt. Der Glaube vermag uns Hoffnung zu schenken, obwohl es nach menschlichem Ermessen keine Hoffnung mehr gibt. Im Gebet wenden wir uns an diese Macht, die unser Leben und Sterben mit Güte und Barmherzigkeit umschließt. Offenbar haben Menschen bereits vor so vielen Jahrhunderten diese tröstliche Erfahrung gemacht und sie für nachfolgende Generationen aufgeschrieben. Sie sollten – wir sollen diese Hoffnung auf Hilfe und Rettung auch erfahren. Das ist die Wesentliche aus Davids wechselvollem Leben und wurde in diesen Psalm gegossen. Er fordert uns auf, das selbst einmal auszuprobieren. Damals hat es funktioniert und jede Generation muss wieder neu herausfinden, ob es für sie auch funktioniert. Es ist wie beim Schwimmunterricht: Viele Kinder haben Angst, unterzugehen und vom Wasser verschlungen zu werden. Sie müssen ins Wasser hineingehen. Dann werden sie ihre Angst überwinden und erfahren, dass das Wasser sie trägt. Gottes Güte trägt uns, wenn wir sie in unserem Leben zum Zuge kommen lassen.
Gotteserfahrung
Genau diese Erfahrung haben Leute, die dem Sohn Gottes nachfolgen, wie Petrus, Jakobus und Johannes später gemacht. Begeistert sind sie mit Jesus mitgegangen nach Jerusalem und dann - die große Enttäuschung: Statt Revolution und Erneuerung wird Jesus gekreuzigt. Sie sind völlig ratlos und ziehen sich in eine dunkle Kammer oder ihr altes Leben zurück. Plötzlich taucht der Auferstandene zwischen ihnen auf und ruft ihnen zu: „Friede sei mit euch!“ und „Fürchtet euch nicht!“ Das ist die Antwort auf die Bitte in Psalm 70. Da heißt es: „Ich aber bin elend und arm; Gott, eile zu mir! Du bist mein Helfer und Erretter; HERR, säume nicht!“ Gott hat auf diesen Hilferuf eine Antwort für alle Zeiten gegeben – und sie ist eine Person. Der Auferstandene zeigt uns: Ja, Gott ist für uns da und umschließt unsere Verzweiflung mit Hoffnung, unsere Gebrochenheit mit Heil und unsere Vergänglichkeit mit Ewigkeit.
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