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/ Bibel heute

Das stellvertretende Leiden und die Herrlichkeit des Knechtes Gottes (1)

Reinhold Weber über Jesaja 52,13–53,5.

Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren.

Jesaja 52,13–53,5

„Jesus im Alten Testament“, so könnte ich das eben verlesene Bibelwort überschreiben. Ich dachte: Besser als jeder Kommentar wäre es, den Text selbst mehrmals langsam meditierend zu lesen. Genau das möchte ich Ihnen empfehlen, einmal zu tun. Trotzdem versuche ich, das Unerhörte jener Botschaft, nämlich das stellvertretende Leiden Jesu für uns mit drei Vergleichen herauszustellen und unter drei Gesichtspunkten auf uns wirken zu lassen:

Ein Erstes: Gott schafft die Quadratur des Kreises.

Gottes Gerechtigkeit fordert unbeugsam und unbedingt Sühne für unsere Sünde. Er kann nicht „Fünfe gerade sein lassen“. Stellen wir uns zum Vergleich einmal vor: In der Schule haben einige Buben etwas Dummes angestellt. Der Lehrer beordert sie nach vorne und hält ihnen eine Strafpredigt. Aber dann schickt er sie auf ihre Plätze zurück mit der Bemerkung: Ich will noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Damit tut er zweierlei: Er erklärt Gnade und Recht für absolut unvereinbare Gegensätze. Und zweitens sagt er damit, dass er auf Recht verzichtet, juristisch gesprochen: das Recht beugt.

Wenn es eines gibt, was Gott nicht kann, dann ist es „Gnade vor Recht ergehen lassen“. Wie das? – Das hieße nämlich: Er beugt das Recht, das er selbst gesetzt hat. Aber Gott kann etwas viel Größeres tun: Er kann Gnade und Recht gleichzeitig geschehen lassen. Er schafft Recht, indem er die Strafe vollzieht; und er übt Gnade, indem er dies nicht an mir, dem Schuldigen, sondern an seinem Sohn tut. Also nicht „Gnade vor Recht“, sondern Gnade und Recht. Ich nenne das die Quadratur des Kreises. Deshalb hat Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde geschickt.

Zweitens: Gott richtet wirklich.

Wer das Schauspiel „Wilhelm Tell“ von Friedrich von Schiller einmal gesehen hat, wird die spannenden Augenblicke vor dem Apfelschuss nicht vergessen. Gespannte Stille bei allen Mitspielern auf der Bühne und ebenso unter den Zuschauern auf den Rängen. Wird er wirklich schießen und evtl. seinen Sohn töten? Nun, wir wissen, dass er gut gezielt hat, und nur den Apfel, nicht aber seinen Sohn getroffen hat, ihn auch nie treffen wollte. Es kommt also in dieser Szene bis kurz vor einen tödlichen Schuss, nicht aber zum wirklichen Töten.

Anders Gott: Er zielt wirklich auf seinen Sohn. Und er tötet ihn. Nicht aus Versehen, sondern in voller Absicht – unfassbar! Aber das erfordert seine Gerechtigkeit. Was die Henkersknechte dort auf dem Hügel Golgatha vollbrachten, war in Wirklichkeit Gottes eigenes Tun. Ich frage: Haben wir vor diesem Wort aus dem alten und neuen Testament schon einmal in so atemloser Stille gestanden, wie die Menschen auf der Tell-Bühne beim Apfelschuss? Ist Ihnen das schon einmal so unter die Haut gegangen, dass Gott wirklich ernst macht? Nein, Gott ist kein gütiger Opa, der uns letztendlich doch großmütig durch die Finger schaut. Oder haben wir uns so daran gewöhnt, dass Gott doch gütig ist, dass wir den Ernst seines Zornes ignorieren? Viele wissen das von Kindheit auf, haben es oft gehört und gelesen. Hat Sie das schon einmal bis ins Mark erschüttert? Im Neuen Testament, das ja in seiner Gesamtheit Evangelium, also gute Botschaft ist, lese ich auch einen Vers, der mich erschaudern lässt. Da steht im Hebräerbrief, Kapitel 10, Vers 31: „Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. Und einer hat dieses Schreckliche erlebt, erlitten: Gottes eigener Sohn.

Es liegt mir fern, mit diesem Wort Angst machen zu wollen. Aber ich muss doch auch die Schwere, die Tiefe meiner Schuld zur Kenntnis nehmen. Umso größer steht dann die Gnade Gottes vor meinem inneren Auge. 

Und nun mein dritter Vergleich, mein dritter Leitsatz:

Gott tauscht mit mir den Platz.

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Strafprozess vor Gericht. Der Richter hat das Urteil verkündet und die Urteilsbegründung verlesen. Dann fragt er den Angeklagten und nunmehr Verurteilten „Wollen Sie noch etwas sagen? Sie haben das letzte Wort“. Und jetzt erzähle ich die Geschichte einmal weiter, wie sie garantiert nie ablaufen würde: „Ja, Herr Richter, ich sehe ja alles ein, aber könnten Sie selbst nicht jetzt mit mir tauschen? Könnten Sie nicht das Urteil, das Sie über mich gesprochen haben, selbst auf sich nehmen?“ – „Ja, darüber lässt sich reden“, so der Richter. „Ich selbst muss zwar hier an diesem Platz bleiben und meine Pflicht tun; aber ich habe einen Sohn, der ist absolut unbescholten. Und der hat erklärt, wenn ich einmal einen „Lebenslänglichen“ hätte, dann wäre er bereit, dessen Strafe auf sich zu nehmen. Bitte wenden Sie sich an meinen Sohn. Er wird es Ihnen abnehmen. Ich gebe Ihnen nachher seine Adresse.“

„Unsinn, solch eine Erzählung!“, werden Sie sagen. Natürlich ist das Unsinn in unserem menschlichen Erfahrungs-Horizont. Aber nicht bei Gott. Denn genau das hat er getan. Und nun lese ich noch einmal den letzten, den 5. Vers:

„Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Wir selbst können nichts, aber auch gar nichts wieder gutmachen von dem, was wir verbockt haben. Aber wir können einwilligen in den Tausch, den Gott uns anbietet. Und hier hat meine Phantasie-Geschichte einen realen Vergleichspunkt: „Wenden Sie sich an meinen Sohn, der ist bereit, Ihnen die Schuld abzunehmen“, so lautete das Angebot des Richters. Das ist das einzige, was wir tun müssen, aber auch nur tun können: uns an den Sohn wenden, ihn bitten, uns die Schuld abzunehmen. Und damit würden wir nur annehmen und ernst nehmen, was er schon längst für uns bereithält.

Der Apostel Paulus bringt diesen Tausch in einem prägnanten Satz zum Ausdruck, wenn er in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt (2. Kor. 5,21).“

In einem Lied aus den 1960er Jahren heißt es: „Um Gott ins Herz zu sehn, musst du zum Kreuze gehn. Da stirbt für dich sein einzig Kind, verflucht für alle deine Sünd. Du musst zum Kreuze gehn, um Gott ins Herz zu sehn.“

Wenn Sie nun noch einmal den Jesaja-Text lesen und auf sich wirken lassen, dann könnte das zweierlei bewirken: Einmal eine große Betroffenheit, dann aber auch ein grenzenloses Staunen und eine unendliche Freude, wie sie in der zweiten Strophe des eben zitierten Liedes ausgedrückt wird: „Wie ist die Liebe groß! Er tauscht mit dir das Los, trägt deine Schuld zum Kreuz hinauf, schließt dir dafür den Himmel auf. Er tauscht mit dir das Los; wie ist die Liebe groß!“

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