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© Priscilla-du-Preez / unsplash.com

01.12.2015 / Serviceartikel / Lesezeit: ~ 5 min

Autor/-in: Christine Keller

Begegnung auf Augenhöhe

Wie Gespräche über den Glauben beiden Seiten weiterhelfen können.

Sind Sie in der Fußgängerzone Ihrer Stadt schon mal Herrn „Ich-habe-auf-alle-Glaubensfragen-eine-Antwort“ oder Frau „Zweifel-kenne-ich-nicht“ begegnet? Sie laufen in unterschiedlichen Gewändern umher, aber immer mit derselben Mission:  Sie möchten den christlichen Glauben an den Mann und an die Frau bringen. Sie sind ausgerüstet mit einer Schubkarre voller Bibelverse und einem Werkzeugkoffer gefüllt mit Glaubensphrasen. Wer als Fußgänger die Schubkarre übersieht und einen freundlichen Blick in die Richtung der beiden wirft, hat verloren – denn entkommen kann er dann nicht mehr.

Es geht auch anders

Ich gebe zu, die Schilderung ist übertrieben. Trotzdem hatten vermutlich die meisten ein bekanntes Bild vor Augen. Für jemanden, der distanziert gegenüber Glauben steht, ist eine solche Begegnung in der Fußgängerzone vermutlich mehr als unangenehm. Und sie motiviert nicht unbedingt, sich weiter mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen. Wenn dagegen Menschen, die sich mit dem christlichen Glauben identifizieren, eine solche Situation beobachten, setzt häufig Fremdscham ein. Ist das wirklich die beste Art, über den Glauben ins Gespräch zu kommen?

Cover von Georg Schwikarts Buch
Georg Schwikarts Buch „Prüft alles, behaltet das Gute“ ist im Herder Verlag erschienen. Hier kommen Sie zum Buch. Bild: © Herder Verlag.  

Georg Schwikart benennt in seinem Buch „Prüft alles, behaltet das Gute. Selbst entscheiden, was man glaubt“ mehrere Denkens- und Verhaltensmuster, die dem Glauben nicht guttun und abschreckend auf andere wirken. In Schwikarts Buch geht es hauptsächlich um verschiedene Religionen und was man voneinander lernen kann; die Denkens- und Verhaltensmuster tauchen nur nebensächlich auf. Doch aus meiner Sicht handelt es sich dabei um wichtiges Thema, über das man ausführlicher sprechen sollte. Aus diesem Grund führe ich Schwikarts Aussagen weiter aus und spitze sie auf den christlichen Glauben zu.

Mut zur Lücke

Die zentrale Person des christlichen Glaubens ist Jesus Christus. Jesus war ein Mann voller Weisheit. Egal, welche Situation man sich in den Evangelien anschaut – selbst auf die hinterlistigsten Provokationen der Gesetzeslehrer hatte er immer die passende Antwort parat. Jede Handlung und jedes Wort trifft den Nagel auf den Kopf. Hat dann jemand, der Jesu Lehre verinnerlicht,  automatisch dieselbe Weisheit, um alle Fragen beantworten zu können?

Georg Schwikart beschreibt die Kirche seiner Kindheit als „perfektes System, das keine Fragen offen ließ“ (Seite 17). Vor allem nicht die Fragen, wer und wie Gott sei und was Menschen zu glauben, zu tun und zu lassen hätten. Auch wenn die Bibel davon spricht, dass der Heilige Geist Menschen Weisheit gibt: Sie ist bei keinem so vorhanden wie bei Jesus. Also: Mut zur Lücke! Es nimmt keine Glaubwürdigkeit, wenn man vor Lieschen Müller in der Fußgängerzone zugibt, nicht auf alles eine Antwort zu haben. Ganz im Gegenteil!

Zweifel in den Glauben integrieren

Max Mustermann trauert um einen verstorbenen Angehörigen, verliert seinen Job und wird krank. Da stellt er sich die Frage: „Warum, Gott?“ Er verzweifelt an Gottes Schweigen und stellt seine Zusagen in Frage. Wie reagiert man im Gespräch auf Max‘ Verzweiflung? Manchmal kann es besser sein, die Bibel nicht aufzuschlagen, sondern die Arme zu öffnen. Auch wenn es Bibelverse zu Leid, Trauer und Tod gibt, muss man die Zweifel an einen guten Gott in einer solchen Situation stehenlassen können.  Wer weiß, wie man selbst mit solchen Schicksalsschlägen umgehen würde?

„Das Ziel ist nicht erreicht, wenn alle Zweifel getilgt sind, sondern wenn wir den Zweifel in unsere Persönlichkeit integrieren können“, schlussfolgert Georg Schwikart (S.57). Glaube und Zweifel schließen sich seiner Meinung nach nicht aus. Deswegen kann man die Zweifel anderer auch einfach stehenlassen und es Gott überlassen, dieser Person zu begegnen. Es werden nämlich immer wieder Situationen kommen, die das eigene Gottesbild auf den Kopf stellen. Doch wer in seinem Glauben Raum für Zweifel hat; Raum dafür, nicht jede Handlung Gottes verstehen zu müssen, wird seinen Glauben nicht aufgrund dieser Situationen verlieren. Ein weiterer Vorteil: Wer selbst Zweifel kennt, kann authentisch über seinen Glauben sprechen – und in den richtigen Situationen auch schweigen.

Gott und seine Liebe ins Zentrum setzen  

Der christliche Glaube beantwortet die zentralen Fragen des Menschen: Woher kommt der Mensch und wohin wird er gehen? Für die Zwischenzeit auf der Erde enthält die Bibel Richtlinien, wie Menschen auf eine gute Weise miteinander umgehen können. Schwikarts Fazit: Der Glaube definiert sich dadurch, dass er die Welt und das Leben bejaht (S.76).

Im Umkehrschluss ist es schade, wenn der Glaube an Jesus stark durch Verbote erklärt wird. Christen sind oft gegen Abtreibung, gegen Sterbehilfe, gegen Sex außerhalb der Ehe – und das aus guten Gründen. Doch bei solchen Kategorien handelt es sich nie um die Grundlage des Glaubens. Deswegen: In das Zentrum des Glaubens gehören Gott und seine Liebe. Und das sollte sich auch in dem Leben und Reden über den Glauben widerspiegeln. Also: Beim nächsten Mal einfach eine Schubkarre voll Liebe mitnehmen – auch wenn es in politischen Diskussionen beim Stammtisch schon mal hitzig werden kann.

Das eigene Gottesbild immer wieder neu formen lassen  

Wer die Geschichten von Jesus in den Evangelien verfolgt, wird immer wieder von seinen Reaktionen überrascht. Mal tritt er gütig und barmherzig auf, mal distanziert und kritisch. Deswegen ist es gut und wichtig zu wissen, dass Gott oft anders ist, als man erwartet. Die Bibel bietet zwar viele Bilder an, die Gott charakterisieren – der Hirte, die Burg, der Schutz –, sie beschreiben aber jeweils nur einen Aspekt Gottes (S.117).

Genauso beschreiben die eigenen Erfahrungen mit Gott nur einen Bruchteil dessen, wer und wie Gott ist. Man wird sicherlich Erfahrungen machen, die das eigene Gottesbild neu formen. Es ist darum gut, sich bewusst zu sein, dass Glaube nichts Abgeschlossenes ist. Das muss einen nicht abhalten davon, über den Glauben ins Gespräch zu kommen. Diese Erkenntnis sorgt lediglich für eine gesunde Demut, wenn man über den eigenen Glauben und persönliche Erfahrungen mit Gott spricht. Vermutlich ist es aber genau diese Demut, die anderen Menschen hilft, einen Zugang zu Fragen rund um den Glauben zu finden.

Fazit

Mit diesen Grundlagen im Hinterkopf spricht es sich viel leichter über den Glauben. Sie nehmen einem den Druck, alles wissen zu müssen und immer den passenden Bibelvers parat zu haben. Stattdessen kann man offen und authentisch mit anderen Menschen ins Gespräch kommen. Diesen Unterschied werden andere sicherlich bemerken. Denn es gibt viele Menschen, die Fragen zum Glauben haben und sich jemanden wünschen, mit dem sie darüber sprechen können – in der Fußgängerzone und an anderen Orten.

 Christine Keller

Christine Keller

  |  Redakteurin

Hat in der Redaktion von ERF Jess gearbeitet. Ist ansonsten als freie Journalistin auch online und hinter der Kamera unterwegs. Sie hat Hummeln im Hintern, was aber nicht weh tut. Sie liebt es, To-Do-Listen zu schreiben und abzuhaken. Wenn‘s doch mal entspannt sein soll, nimmt sie gern ein gutes Buch zur Hand.

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