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© Christian Aid Program CAPNI

19.08.2014 / Flüchtlingshelferin im Irak / Lesezeit: ~ 6 min

Autor/-in: Andrea Wegener

„Wir haben den Eindruck, dass wir vergessen sind“

Andrea Wegener erlebt, was die Terroristen Christen im Irak antun

Andrea Wegener war mit der Hilfsorganisation GAiN (Global Aid Network) im Irak – genau zu dem Zeitpunkt, als die Terrorgruppe IS (Islamischer Staat) Christen unter Todesdrohungen zur Konversion oder Flucht gezwungen hat. Während ihrer Zeit im Irak hat sie Tagebuch geschrieben. Wir dürfen es in Auszügen veröffentlichen.

Dienstag, 15. Juli

Ein Flüchtling zeigt mir Bilder von Mossul: Er hat sich vor einigen Tagen noch einmal in die Stadt zurück gewagt, um einige Dokumente zu holen und dabei um sein Leben gefürchtet. Die IS hat schwarze Markierungen an den Häusern der Christen angebracht, um damit ihren Anspruch darauf zu verdeutlichen. Die Straßen sind menschenleer. Die einzigen Autos, die man in der Stadt sieht, sind ausgebrannt und stehen verlassen am Straßenrand. Ganz vorn beim Gottesdienst sitzt ein älteres Ehepaar aus Mossul. Sie sind mittlerweile zum vierten Mal geflüchtet. Jetzt haben sie schon wieder alles verloren.

Ein anderer Flüchtling aus Bagdad gibt einen Zwischenstand zur Situation dort. „In den Kirchen stehen die Leute im Gebet zusammen. Aber außerhalb der Kirchen sieht es sehr düster aus.“ Ein weiterer hat Neuigkeiten aus Mossul: Nur noch wenige Christen sind in der Stadt geblieben. Die ISIS hat ihre Häuser übernommen. „Alle sagen, dass es keine Hoffnung gibt“, meint ein Mann. „Aber wir glauben an einen großen Gott. Unsere Umstände sind schwierig. Aber unser Gott ist größer.

Donnerstag, 17. Juli 2014, abends

Das Bewegende ist, wie alle einander beistehen. Die, deren Flucht schon einige Tage oder Wochen zurück liegt, versuchen jene zu trösten, die gerade erst angekommen sind. Für viele der Familien ist bald eine andere, dauerhaftere Unterkunft gefunden. So waren wir in den letzten Tagen alleine mit einer sechsköpfigen Familie, die in einem der Zimmer zusammen hauste.

Andrea Wegener (Foto: Privat)

Während wir zusammensitzen wird die Wohnungstür aufgestoßen und R. kommt herein. Er schafft es gerade noch bis zum Sofa, bevor er zusammenbricht. „Ich hab noch nie einen Menschen gesehen, der so fertig war“, meint Henri hinterher – und der ist als Feuerwehrmann einiges gewöhnt. Es braucht eine Weile und mehrere Gläser Wasser, bis R. sich soweit gefangen hat, dass er reden kann: „Vor ein paar Tagen standen ISIS-Leute vor unserer Tür. Sie haben unsere Personalien aufgenommen und unsere Telefonnummern aufgeschrieben. Am nächsten Nachmittag haben sie meine Frau auf ihrem Handy angerufen und sie bedroht; sie haben ihr aus dem Koran vorgelesen und gesagt, dass wir alle umkommen, wenn wir nicht zum Islam übertreten. Meine Frau hat große Angst gehabt.

Plötzlich stand eine ganze Gruppe von Männern mit schwarzen Kleidern und dunklen Bärten in der Tür. Sie wollen die Leute einschüchtern. Mein kleiner Sohn hat gefragt: ‚Töten die uns jetzt?’ Aber sie haben nur unser Haus von oben bis unten durchsucht. Dabei haben sie meine kleine englische Gideon-Bibel gefunden. Sie haben mich angeschrieen, woher ich die habe. Da ich einen Amerikaner kenne, bin ich für sie schon ein Verbrecher. Sie haben gesagt, dass sie uns schon seit einem Monat ganz genau beobachten und dass ich mich vorsehen soll. Sie sind zwar wieder abgezogen, aber uns ist bewusst geworden, dass wir jetzt erst recht nicht mehr sicher sind.

Sie brauchen keinen Vorwand, um Leute umzubringen, aber eine englische Bibel wäre Vorwand genug. In den letzten Wochen haben sie mitten in der Stadt, auf offener Straße Filme gezeigt, in denen sie Leute hinrichten. Was sind das für Menschen? Ich habe zu ihnen gesagt, dass Gott wie eine Kerze ist und Wärme und Licht verbreitet – aber sie verbreiten nur Dunkelheit und Angst. Wie können sie sagen, dass sie für Gott kämpfen?“

Freitag, 18. Juli, nachmittags

Schon seit dem Mittag ist unser Flur eine Mischung aus Newsraum und Notfallseelsorge-Zentrum. Die junge Frau, die gestern mit ihrer Familie angekommen ist, läuft rastlos weinend den Flur auf und ab, der Familienvater telefoniert ununterbrochen. Bei all den Mitbewohnern und Besuchern, die in unsere Wohnung kommen, wieder gehen, Neuigkeiten bringen, ihre Freunde in den Arm nehmen oder neue Infos bekommen, verliere ich ein bisschen den Überblick. Nach einer Weile kristallisiert sich heraus, was los ist:

Heute Morgen hat ISIS alle Kirchenleiter, die noch in der Stadt waren, zu sich zitiert. Manche haben gesagt, dass sie nicht kommen wollten, und zur Antwort bekommen, dass sie und ihre Gemeindeglieder dann eben gleich umgebracht werden. Man hat nicht ohne Grund vorher alle Personalien aufgenommen. Also sind sie gekommen und haben danach folgende Nachricht an ihre Leute weitergegeben: Sie sollten sofort die Stadt verlassen. Die allermeisten sind mit ihren Wertsachen und Papieren aus der Stadt geflohen. Manche hatten sogar noch Autos, in denen sie aufbrechen konnten. Überall um die Stadt herum waren Kontrollen eingerichtet, an denen man ihnen alles abgenommen hat: Geld, Wertsachen – und die Autos sowieso. 

Den Christen in Mossul ist ein Ultimatum gestellt worden: Bis morgen um 12 Uhr können sie die Stadt noch verlassen, danach haben sie nur noch zwei Möglichkeiten: konvertieren oder sterben. Das gilt auch für Christen, die sich zurück in die Stadt wagen. Was in den letzten Tagen noch manche riskiert haben – eben mal schnell nach Mossul fahren, sich ins Haus schleichen und vergessene Papiere mitnehmen – wird nun wohl endgültig unverantwortlich. Wir beten für ein Wunder.

Montag, 21. Juli, abends

„Sie haben uns alles weggenommen.“ Diesen Satz haben wir heute in fünf Häusern mehrfach gehört. Es ist der Refrain, der sich durch die Geschichten der Menschen zieht, die am letzten Wochenende aus Mossul geflohen sind und an den ISIS-Kontrollpunkten alles abgeben mussten. Nur die Kleider, die sie am Leib trugen, sind ihnen geblieben. 

„Die haben am Kontrollpunkt unsere Pässe vor unseren Augen vernichtet“, sagt eine Schulleiterin aufgebracht. „Die können uns nicht in so ein Camp stecken!“, weint sie. „Für das Leben dort sind wir doch nicht gemacht.“ Diese Leute gehörten zur Elite ihres Landes und sind jetzt Bettler und Hilfesuchende. „Wir schämen uns so,“ sagt sie, „und wir verstehen nicht, warum die Weltöffentlichkeit nicht reagiert. Warum mischen sich eure Politiker aus der christlichen Welt nicht ein? Wir haben den Eindruck, dass wir vergessen sind. Erzählt unsere Geschichten dort, wo ihr herkommt: in euren Kirchen und bei euren Regierungen. Uns ist so großes Unrecht geschehen.“

„Ich fühle mich wie ein Einwanderer im eigenen Land“, meint ein anderer Mann Mitte 50. Selbst wenn die Rebellen besiegt würden und sie theoretisch nach Mossul zurück könnten, würde seine Familie es nicht wagen, erzählt er. „Ich traue niemandem mehr. Schon in den letzten Jahren sind wir schlechter behandelt worden als die muslimische Bevölkerung und konnten uns an niemanden wenden, um Recht zu bekommen. Ich bin schon entführt und erst gegen 50.000 Dollar freigelassen worden. Meine Familie hat seit Generationen in Mossul gelebt. Aber wir gehen nicht zurück. Sie haben unsere Wurzeln abgeschnitten.“ Seine Frau nickt: „Wir müssen gar nicht mehr reich sein, wenn wir nur irgendwo sicher leben können. Wir brauchen doch nicht viel. Wir hatten so viel und jetzt sind wir schon dankbar, wenn ihr uns eine Tüte Lebensmittel bringt.“

Dienstag 22. Juli, abends

Ein irakischer Ingenieur zeigt uns Bilder von Mossul aus den letzten Wochen: das „N“ an Hauswänden; das Flugblatt, mit dem das Ultimatum angekündigt wurde; Polizeiautos mit dem Signet der ISIS; eine Brücke, unter der ein Transparent hängt: Herzlich willkommen im Staat – wohlgemerkt nicht in der Stadt – der ISIS. „Ich glaube, die Ironie von solchen Transparenten ist denen nicht so recht bewusst“, meint R. lakonisch. „Ach, und guckt mal hier auf dem Bild: das ist das Haus meiner Familie mit dem N für Nasrani, Christen.“ In dem Moment bekommt die Familie einen Anruf von Verwandten, die in einem der christlichen Dörfer nördlich von Mossul leben: ISIS-Truppen haben das Dorf überfallen, in dem einige der Geflüchteten Zuflucht gesucht haben.

Teil 2 des bewegenden Berichts können Sie hier nachlesen.

>> Den gesamten Text finden Sie hier ...

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Kommentare (5)

Libby /

@maite
11. September ... schon mal was von Verbindungen der Bushs zum Bin Laden Clan gehört? Die Bushs waren sich nicht zu fein, ihrer zu bedienen, wenn es deren Interessen genützt hat ... Amerika mehr

Felix /

Aber gibt es jetzt noch eine andere Möglichkeit, als Militärschläge gegen die ISIS? Alles andere scheint mir Augenwischerei.

maite /

@imre ambrus: es lohnt sich, sich näher zu informieren. die isis-truppen nannten sich früher "die neue al-quaida" und werden mutmasslich von dem scheichtum quatar und anderen arabischen emiraten mit mehr

Libby /

Auch den Jesiden ergeht es ähnlich, nur weil sie Jesiden sind ... Die USA haben durch ihre Einmischung erreicht, dass Anarchie als legitimes Mittel dieses ISIS Zeugs angesehen wird, die halten wirklich sich für "Gotteskrieger"

Imre Ambrus /

Ja,hier sind die Ergebnisse der Kriegen,und provozierte Revulitionen der weslichen Staatan.Chaos, Anarchie und Flüchtlinge folgen die Eroberung.Wo USA und Israel eingriffen.überall wurde die mehr

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