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© Paul Fiedler / unsplash.com

12.09.2012 / Wirtschaftswachstum und seine Folgen / Lesezeit: ~ 7 min

Autor/-in: Anika Lepski

Die andere Art zu wachsen

Die Initiative „anders wachsen“ ist der Ansicht, dass gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr über das Wirtschaftswachstum definiert werden darf. Ein Interview

Es ist eine weitverbreitete Auffassung, dass die Bürger mehr kaufen sollen, um der Wirtschaft zum Aufschwung zu verhelfen. Mehrere Ökonomen und Initiativen sind jedoch der Ansicht, dass der Zwang zum Wachstum längst nicht mehr die richtige Entwicklung ist. Die Initiative „anders wachsen“ sieht sich als Plattform, um die bereits bestehenden alternativen Konzepte bekannt zu machen. Dazu führt sie Seminare und Veranstaltungen zum Thema durch. ERF Online hat mit Walter Lechner, einem der Leiter der Initiative, gesprochen.

 

ERF: Sie wünschen sich weniger Wirtschaftswachstum. Heißt es nicht immer, die Wirtschaft muss wachsen, damit es uns besser geht?

Walter Lechner: Unsere Initiative „anders wachsen“ setzt sich nicht für weniger, sondern für eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum in unseren hochindustrialisierten Ländern ein. Es hat über Jahrzehnte hinweg unseren ungeheuren Wohlstand erzeugt, der nach dem Krieg undenkbar war. Damals war das Wachstum notwendig. Wenn nichts da ist, muss produziert werden, um die Menschen mit Grundgütern versorgen zu können und deren Grundbedürfnisse zu stillen. Doch heute haben wir in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft einen so hohen Wohlstandslevel erreicht, dass ein weiteres Wachstum in ökologischer und sozialer Hinsicht schädlich und gefährlich ist.

Erst kürzlich ist die Klimakonferenz „Rio +20“ zum Klimaschutz und zur ökologischen Wende kläglich gescheitert. Auf der einen Seite wollen wir das Klima schützen, aber auf der anderen Seite streben wir nach einer steigenden Wirtschaft mit mehr Konsumgütern, die immer mehr Rohstoffe verbraucht und den CO²-Ausstoß in die Höhe treibt. Das lässt sich nicht miteinander vereinbaren.
 

ERF: Sie fordern die Kirche dazu auf, Alternativen aufzuzeigen. Warum?

Die Initiative „anders wachsen“ wurde im März 2011 von Mitarbeitern der Kirche gegründet und setzt sich für ein Wachstum in Lebensbereichen außerhalb der Wirtschaft ein. Ihr geht es nicht um qualitatives und nachhaltiges Wachsen, da dieses weiter das Wirtschaftswachstum als gesellschaftliches Leitziel verfolgt. Dazu Lechner: „Wenn der Zwang zum Wirtschaftswachstum wegfällt, eröffnet das andere Wachstumsoptionen. Es gibt Menschen, die 'anders wachsen' in der einen oder anderen Weise leben. Das kann ehrenamtliches Engagement sein, fair-ökologisch-saisonaler Konsum, spirituelles Leben, Musizieren, Befreiung vom Konsumstress, Bezug von Ökostrom oder Nutzung alternativer und sozial förderlicher Sparformen wie Oikocredit.“

Walter Lechner: Die Bibel lehrt, dass es Grenzen des Wachstums gibt. Wenn wir diese überschreiten, wird es für Menschen schädlich. Gott hat uns heilsame Grenzen gesetzt, um unserer selbst und der Schöpfung willen. Der christliche Glauben lehrt das Maßhalten. In diesem Fall kann es heißen zu erkennen, was man zum Leben braucht und was uns ein gutes Leben beschert.

Aber unsere Gesellschaft hat die Maßlosigkeit zum Maß aller Dinge gemacht. Nach unserer Überzeugung müssen Kirchen und Christen darauf aufmerksam machen, dass wir uns in eine falsche Richtung bewegen, die uns nicht mehr gut tut. Wir bedienen mit dem Zwang zum Wirtschaftswachstum eine gigantische Finanzindustrie, die auf Anhäufung von Geld ausgerichtet ist. Dem einzelnen Menschen kommt das Wirtschaftswachstum, das überall gefordert wird, nicht zugute. Und solange die Wirtschaft wächst, werden auch der Ressourcenverbrauch und die Verschmutzung der Welt steigen. Das kann nicht im Sinne Gottes sein.
 

ERF: In der Bibel wird Reichtum und Konsum per se nicht negativ gesehen, denken wir an Salomon oder Abraham.

Walter Lechner: Die Bibel beinhaltet durchaus kritische Aussagen zum Reichtum. (Lukas 12,16-21) Aber die Kirche muss nicht automatisch gegen Reichtum und Konsum sein, wenn sie sich gegen den Zwang zum Wirtschaftswachstum und für eine andere Prioritätensetzung in der Gesellschaft ausspricht. Wenn wir als Gesellschaft jedoch unseren Reichtum zu Lasten von Menschen in Billiglohnländern und durch kontinuierlich wachsende Ausbeutung natürlicher Ressourcen erreichen, dann lässt sich das nicht mit der Bibel in Einklang bringen.

„Es wird der belohnt, der das kurzlebigste Produkt erzeugt“

 

ERF: Welche Alternativen zum Wirtschaftswachstum gibt es Ihrer Ansicht nach?

Walter Lechner: Das Wirtschaftswachstum ist nur eine Maßeinheit. Es ist die jährliche Steigerung des Bruttoinlandprodukts, die Summe der erzeugten Warenwerte innerhalb eines Jahres. Das Problem ist, dass wir das Wachstum zum Gradmesser für den Wohlstand unserer Gesellschaft gemacht haben. Es gibt Möglichkeiten und Konzepte, gesellschaftliche Entwicklung anders zu definieren, indem man zusätzliche Faktoren mit einbezieht: wie viel Freizeit die Menschen haben, welche Qualität das Familienleben in einer Gesellschaft hat, welchen Stellenwert Kultur und Bildung haben.

Die moderne soziale Marktwirtschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. Ludwig Erhard, einer der Gründerväter, hat damit gerechnet, dass nach einer Phase der Deckung der normalen Bedürfnisse das Wirtschaftswachstum endet und etwa in den 70er-Jahren in eine "stationäre Wirtschaft" übergeht. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits die Wachstumswirtschaft in eine "Wachstumsgesellschaft" verwandelt - d. h. in eine Gesellschaft, in der alle Bereiche bis hin zu den Sozialsicherungssystemen auf der Logik aufbauen, dass morgen mehr da ist als gestern. Diese Logik gilt es zu brechen.
 

ERF: Welche Rolle spielt die Politik in diesem negativen Kreislauf?

Walter Lechner: Die Politik hat die Möglichkeit festzulegen, wer durch Subventionen, Steuererleichterungen und Abbau von Handelshemmnissen belohnt oder benachteiligt wird. Im Moment wird derjenige belohnt, wer das meiste Kapital und das kurzlebigste Produkt erzeugt. Denn er produziert mit der Notwendigkeit, dass der Kunde so schnell wie möglich wieder etwas Neues nachkauft. Gleichzeitig werden aber soziale und ökologische Kosten ausgegliedert. Wenn man diese mit einrechnet, würden viele nicht mehr zum Wirtschaftswachstum beitragen. Vielleicht würden sie sogar ein Negativwachstum haben, weil sie enorme Schäden im Klima, im Rohstoffabbau und in sozialer Hinsicht erzeugen.

Die Politik belohnt Wirtschaftswachstum nicht direkt, aber sie hat im Moment das Anwachsen der Gesamtwirtschaftsleistung zur obersten Priorität der Gesellschaft erhoben. Man hat eine Wertung für alles, was in der Gesellschaft passiert, eingeführt und diese Wertung lautet: Wird durch eine Maßnahme mehr Gewinn, mehr Wirtschaftsleistung, mehr Effektivität, mehr Güterproduktion erreicht?
 

ERF: Sie haben Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung erwähnt. Gibt es noch weitere Gebiete, wo Wirtschaftswachstum abträglich ist?

„Es gibt bereits Gesellschaften mit anderen Prioritätensetzungen. Das asiatische Land Bhutan beispielsweise hat die alleinige Orientierung am BIP durch einen Nationalen Glücks-Index ersetzt. Seit 2008 wird dort das 'Bruttonationalglück' als Ziel der Gesellschaft verfolgt. Der Lebensstandard, gemessen an Faktoren wie soziale Gerechtigkeit, Bewahrung kultureller Wert, Schutz der Umwelt und Güte der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen, ist das Maß der Politik und Wirtschaft. Ähnliche Gesellschaftsziele verfolgen manche südamerikanische Länder mit dem Prinzip des 'buen vivir' (gutes Leben).“ (Walter Lechner)

Walter Lechner: Wirtschaftswachstum basiert auch darauf, dass immer weniger Menschen immer mehr leisten. Es läuft darauf hinaus, dass Menschen ausgebeutet werden. Ich höre oft, dass die Leute gern weniger arbeiten und auch in Kauf nehmen würden, weniger zu verdienen. Aber sie können es nicht, weil sie entweder ihrer Firma zu 150% zur Verfügung stehen müssen oder keine Arbeit haben. Familien haben oft kein Familienleben mehr, weil beide Elternteile arbeiten gehen müssen, um einen gewissen Standard zu halten. Die meisten Leute wollen aber die Beziehungen und Familie pflegen und dafür Möglichkeiten und Raum haben.

Auf der anderen Seite erleben wir auf globaler Ebene, wie Menschenrechte und der Umweltschutz systematisch umgangen werden, um der Wirtschaft nicht im Wege zu stehen. Die Wirtschaft sucht automatisch die Länder in unserer globalisierten Welt, in denen die Konzerne am billigsten und ohne irgendwelche Hemmschwellen sozialer oder ökologischer Natur produzieren können. Das führt zum Beispiel dazu, dass wir heute ungefähr 90% unserer Kleidung aus Billigstlohnländern wie China und Bangladesch beziehen, in denen die Menschen keine Rechte haben. Dort arbeiten die Menschen etwa 70 Stunden und sechs oder sieben Tage in der Woche. Aber genau das fördert die Wirtschaft, weil damit eine höhere Gewinnspanne entsteht. Es gibt Alternativen: man kann Arbeit und Wohlstand teilen, sodass alle unterm Strich mehr vom Leben haben.
 

ERF: Wenn wir wirklich zahlen müssten, was die Waren wert sind, könnten wir uns vieles doch überhaupt nicht mehr leisten.

Walter Lechner: Wir haben in den letzten Jahrzehnten die herkömmliche Landwirtschaft in unserem Teil der Welt zerstört, indem wir davon ausgegangen sind, dass Lebensmittel fast nichts mehr kosten dürfen. Während in den fünfziger Jahren die Menschen etwa die Hälfte ihres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben haben, investieren wir heute gerade noch 10 % unseres Einkommens für Essen und Trinken. Das hat eine Industrialisierung der Landwirtschaft zur Folge, die weder den Bauern eine Perspektive lässt, noch die Schöpfung bewahrt. Deutschland exportiert zudem billige Überschüsse in ärmere Länder und macht damit die dortigen Märkte kaputt. Zu niedrige Preise für Lebensmittel sind daher nicht ethisch.
 

ERF: Ist die Forderung nach dem Umdenken nicht an Menschen vorbeigedacht, die kaum Geld zum Leben haben?

Walter Lechner: Der Ruf nach Umkehr ist nicht an den Armen vorbeigedacht, sondern hat die Armut zum Anlass. Nicht die Ärmsten sind in erster Linie zur Umkehr in diesen Fragen zu rufen, denn sie sind häufig die Opfer der falschen Prioritätensetzung in der Gesellschaft. Warum muss es in einem der reichsten Länder der Welt überhaupt so viele Menschen geben, die oft trotz Vollzeitarbeit zu wenig zum Leben haben? Allein daran sehen wir, dass dauerndes Wirtschaftswachstum nicht automatisch mehr Wohlstand für alle bringt, sondern heute in erster Linie die Interessen großer Kapitalanleger bedient, die ihr Geld für sich "arbeiten lassen" und Zinsen erhalten wollen.
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch.
 


Weitere Links zu diesem Thema finden Sie auf anders-wachsen.de.

 

Ihr Kommentar

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Kommentare (18)

Jaques L. /

Zitat aus dem Interview:
"Walter Lechner: Wirtschaftswachstum basiert auch darauf, dass immer weniger Menschen immer mehr leisten. Es läuft darauf hinaus, dass Menschen ausgebeutet werden. "
Die mehr

Jaques LeMouche /

De facto Tendenz zum Nullzins:
There is a psychopathic fear of "excessive" interest rates. It is argued that if interest rates are too high it will not be profitable for industry to borrow and invest mehr

Jaques LeMouche /

Die größten Verwerfungen, die im Zusammenbruch und in Währungsreformen endeten, gab es immer zu Nullzinszeiten. Stabiltät dagegen zu Hochzinszeiten. Der Zins drückt lediglich eine unterschiedliche mehr

Tristan A /

In meinem Kommentar fehlt in dem Zitat das Wort Zins. Die richtige Fassung lautet:
> Wenn man bedenkt, daß ein so zinsenfreundlicher Gelehrte wie Helfferich später festgestellt hat, daß die Zinslast mehr

Tristan A /

Die von Walter Lechner angeführte Initiative "anders wachsen" weist auf ein dringendes Problem hin. Zum einen muß auf die Wirkungen eines ständigen Wachstums ohne Steigerung der Lebensqualität mehr

Jaques LeMouche /

Vielleicht sollte zudem noch die Frage geklärt werden, was Wachstum eigentlich ist. Wie entsteht Wachstum? Die Antwort ist einfach und überraschend - über Statistik! Bereits in den dreißiger Jahren mehr

Andreas B /

Über eine lange Zeit betrachtet (seit 1948 sind immerhin 64 Jahre vergangen) wurden mit risikolosen Geldanlagen bis heute durchschnittlich zwischen 5 und 6% Renditen erzielt. Jahrzehntelang hat jede mehr

Jaques LeMouche /

Was wir gegenwärtig erleben ist das Enstadium dieser Kriegsgeldwirtschaft. Nachhaltig ist an diesem System nichts. Wie Dr. Ingo Resch in einem auf ERF gesendeten Vortrag dargelegt hat, hat sich im mehr

Jaques LeMouche /

Die Zinsen sind schon lange faktisch null, inflationsbereinigt sogar negativ. Also kann der Zins wohl kaum die Ursache für hemmungslose Verschuldung sein. Im Gegenteil: Durch die Einführung des Euro mehr

Anselm Rapp /

Die Ursache liegt in der Missachtung des biblischen Zinsverbots. Bundesbank-Grafiken zeigen, dass ständig wachsenden Geldvermögen proportional wachsende Verschuldung gegenübersteht. Zins und mehr

Jaques LeMouche /

Paul F hat recht: Hauptverantwortlich für die gigantischen Schuldenberge sind die Politiker, deren Horizont bei der nächsten Wahl endet. Und somit wird auf Teufel komm raus (im wahrsten Sinn des mehr

Samuel Diekmann /

Wartet's mal ab. Genau zu dem Thema werd ich dieses Jahr noch ein Buch veröffentlichen;) danke für den Artikel.

Paul F /

Die Hauptursache der Überschuldung in den Industriestaaten ist der Glaube an ständiges Wirtschaftswachstum. Anstatt in guten Zeiten, Rücklagen für schlechte Zeiten an zu legen wurden in schlechten mehr

Stefan W /

"Die größte Tragödie in der Geschichte der Menschheit ist wohl die, dass die Moral von der Religion mit Beschlag belegt wurde."
Arthur C. Clarke
Ist die Natur in irgendeiner Weise sparsam und mehr

Jaques LeMouche /

Überbordende Verschuldung braucht Wachstum, allein um die Zinsen zu zahlen. Dieser Posten, nämlich der Schuldendienst, ist der zweitgrößte Posten des Bundeshaushalts. Der mit Abstand größte, mit mehr

Jürgen P /

Ich glaube dieses Umdenken wird uns, in Zukunft noch lange beschäftigen. Gab es doch zu allen Zeiten Menschen im Überfluß deren Seelenheil dadurch in Gefahr stand. Nur heute sind die Zusammenhänge so mehr

Jochen K /

Danke,dieser Artikel zeigt die Fehlentwicklung auf dieser Welt auf.Es ist eine
ehrliche und sachliche Darstellung des menschlichen Lebens auf unserer Erde.
Ich habe selten vernünftigeres im Internet gelesen.
J. K.

Ute H /

Danke für diesen Artikel.Ich kannte bisher diese Initiative nicht und ich kann nur zustimmen,was Herr Lechner gesagt hat.
Die Veränderung kann nur von dem Einzelnen ausgehen,ich muss mein mehr

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