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© Kelly Sikkema / unsplash.com

26.04.2012 / Interview / Lesezeit: ~ 8 min

Autor/-in: Hanna Willhelm

„Das beste Leben überhaupt“

Doro Zachmann würde ohne ihren behinderten Sohn viel fehlen. Sie sieht es als gesellschaftlichen Rückschritt, wenn solches Leben "aussortiert" wird.

 

Doro und ihr Sohn Jonas Zachmann (Foto: privat)
Doro und ihr Sohn Jonas Zachmann (Foto: privat)

Doro Zachmann ist eine umtriebige Frau: Die gelernte Sozialpädagogin hat in den vergangene Jahren ihre sechsköpfige Familie gemanagt, macht mit ihrem Mann Musik, spielt Theater und schreibt Bücher und Gedichtbände. Über ihr Leben mit ihrem Sohn Jonas ist jetzt bereits der dritte Titel erschienen: In Ich mit ohne Mama beschreiben die beiden, wie es war, als Jonas erwachsen wurde. Im Interview mit ERF Medien gibt Frau Zachmann einen Einblick in diese Zeit und über ihre Gedanken zum gesellschaftlichen Umgang mit Behinderungen.

 

ERF: Frau Zachmann, bei Ihrem neuen Buch Ich mit ohne Mama war Jonas Co-Autor. War es schwierig, Ihren Sohn mitschreiben zu lassen?

Frau Zachmann: Nein, weil es andersherum lief. Jonas hat mich als Co-Autor gewonnen. Er wollte dieses Buch schreiben. Insofern war er Hauptinitiator und hat auch bestimmt, was er erzählen möchte. Der Prozess des Schreibens selbst war allerdings durchwachsen (lacht). Wir hatten uns einen Nachmittag in der Woche dafür freigehalten und manchmal hatte mein Sohn nach zehn Minuten schon keine Lust mehr. Da musste ich dann am Schluss schauen, wie ich den Zeitplan mit dem Verlag einhalte.
 

ERF: Ist Jonas mit dem Ergebnis zufrieden?

Frau Zachmann: Ja, er freut sich sehr an dem Buch, vor allem auch an den schönen Rückmeldungen, die wir bekommen. Regelrechte Fanpost! Die Lesungen, die jetzt angelaufen sind, machen ihm viel Spaß. Darüber bin ich sehr froh, weil ich nicht wusste, wie das mit ihm wird: Ob er sich das nicht völlig falsch vorgestellt hat, dann enttäuscht ist und nach zwei Malen keine Lust mehr hat. Aber es klappt bestens und das Publikum ist begeistert von ihm. Und ich erst!

Angst um den sprach-losen Sohn

ERF: Der Untertitel des Buches ist Knüller Jonas wird erwachsen. Sie haben vor Jonas drei Töchter durch die Pubertät gebracht. War das bei ihm anders als bei den Mädchen?

Frau Zachmann: Definitiv. Zum einen fing die Pubertät früher an und ging gefühlt etwa doppelt so lang. Zum anderen kam zu den üblichen Themen bei Jonas das "Anders sein" durch seine Behinderung dazu. Oft war es nicht möglich, mit ihm über Probleme zu reden. Sprache ist nicht sein Ventil, wie er Sachen verarbeitet. Er hat sich auch eine Zeit lang zurückgezogen, sich in seinem Zimmer regelrecht eingeigelt. Das war eine schwierige Zeit.
 

ERF: Wie haben Sie das ausgehalten?

Frau Zachmann: Ich habe jeden Tag für sich genommen. Es gab manchmal Tage, an denen ich befürchtet habe, dass er in eine Depression abrutscht  - zumal ich einige Beispiele kenne, wo das tatsächlich so passiert ist. Das hat mir Angst gemacht. Es war mein tägliches Gebet, dass Gott ihn im Blick behält und ihm immer wieder einen Lichtstrahl in sein dunkles Tal schickt. Außerdem hatte ich Rückhalt durch meinen Mann, unsere Töchter und gute Freunde. Gott sei Dank ist Jonas aus dieser Phase wieder rausgekommen und hat zu seiner Fröhlichkeit zurückgefunden. Das ist so wunderbar!
 

ERF: Im Buch beschreiben Sie auch Jonas‘ Wunsch allein zu wohnen oder eine Partnerin zu haben. Glauben Sie, dass diese Träume wahr werden können?

Frau Zachmann: Ich habe schon bei früheren Gelegenheiten gedacht: „Meine Güte, was hat der Kerl für unrealistische Vorstellungen!“, und musste dann verblüfft feststellen, dass Dinge tatsächlich so gekommen sind, wie er es wollte. Weil Jonas ganz viel investiert hat, um diese Ziele zu erreichen. Inzwischen glaube ich, dass seine Träume wahr werden können. Wir müssen diesen Weg – zum Beispiel mit dem Wohnen - einfach Schritt für Schritt gehen. Demnächst haben wir zwei Termine, wo Jonas sich Wohngemeinschaften anschauen kann: In einer wohnen bereits zwei Männer mit Behinderung, in die andere WG sollen noch Studenten mit einziehen. Grundsätzlich ist (fast) nichts unmöglich. Jonas hat schon so oft gezeigt: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!
 

ERF: Und das andere große Thema: Sein Wunsch nach einer Partnerin? 

Frau Zachmann: Er hat nach wie vor eine große Liebe und an der hält er unglaublich fest - das beschreiben wir auch im Buch. Es ist nicht in Sicht, dass daraus etwas wird und trotzdem bleibt er da treu und hält an diesem Mädchen fest. Manchmal ist das sehr traurig, weil er dadurch immer wieder mit diesem Abgelehnt-Sein konfrontiert ist. Ich wünsche mir, dass er eines Tages, vielleicht durch die Arbeit, eine Frau kennenlernt, die auf der gleichen Wellenlänge mit ihm ist und seine Liebe erwidert.
 

ERF: Kennen Sie Beispiele von Beziehungen, wo beide Partner das Down-Syndrom haben und wo das gelingt?

Frau Zachmann: Ja. Ich kenne zwei Pärchen, die bestimmt schon zwei, drei Jahre zusammen sind. Beide wohnen noch zu Hause, sehen sich aber recht häufig. Und dann kenne ich „Fälle“ aus der Presse. Es gibt solche Partnerschaften durchaus, auch wenn das nicht sehr häufig der Fall ist.

„Da kann noch viel auf uns zukommen.“

ERF: Jonas ist schon recht selbstständig. Sie schildern im Buch einen behinderten Mann, bei dem das ähnlich war, der durch eine Depression aber wieder völlig von seiner Familie abhängig wurde. Was ist, wenn das mit Jonas geschieht?

Frau Zachmann: Das kann natürlich sein. Aber wissen Sie, dann denke ich: Alles kann sein. Ich weiß nicht, ob eine meiner Töchter morgen einen Autounfall hat und dann im Rollstuhl sitzt oder ich selbst Brustkrebs bekomme. Jonas hat einen schweren Herzfehler und ist aufgrund seiner Schlafapnoen höchst gefährdet für einen Schlaganfall, da kann noch viel auf uns zukommen. Deswegen lebe ich ganz bewusst jeden Tag aus Gottes Hand. Wir tun unser Bestes, soweit es möglich ist. Aber darüber hinaus lebe ich voll in dem Vertrauen, dass wir, was auch immer kommt, aus Gottes Hand nehmen können und er uns dann auch entsprechend die Kraft schenkt, damit umzugehen.
 

ERF: Das sagt sich so leicht.

Frau Zachmann: Ja, stimmt. Aber ich erlebe es bisher auch so. Wenn ich an den Punkt komme, an dem mir meine Ohnmacht bewusst wird, dann erlebe ich zugleich auch diesen inneren Frieden. Und ich habe im Umkehrschluss schon so oft erlebt, wie Gott eingegriffen hat, bevor ich überhaupt darum gebeten hatte, bzw. dass Gott mich auch in schweren Zeiten trägt.
 

ERF: Seit einiger Zeit gibt es einen Bluttest, mit dem man in der zehnten Woche einer Schwangerschaft feststellen kann, ob ein Kind Down-Syndrom hat. Angenommen, eine werdende Mutter fragt Sie, ob sie diesen Test machen soll – was antworten Sie?

Frau Zachmann: Das ist derzeit eine Lieblingsfrage bei Interviews. Ich finde sie schwer zu beantworten, weil es eine sehr persönliche Frage ist. Wenn frau diesen Test macht, dann muss sie sich vorher überlegen, warum und wozu und welche Konsequenzen das Ergebnis für sie hat. Wenn sie sich diese Fragen vorher nicht gestellt hat - warum sollte sie dann den Test machen?

Ich persönlich könnte mir die Durchführung eines solchen Testes nicht vorstellen. Ich finde auch nicht, dass er ein Fortschritt ist, den die Wissenschaft errungen hat. Er ist meiner Meinung nach ein Rückschritt unserer Gesellschaft. Wir haben als Menschen nicht das Recht uns auszusuchen, welches Leben lebenswert ist und welches nicht. Wo wollen Sie da die Grenze ziehen?

Wenn Sie meinen Sohn fragen würden, ob er ein Recht hat, auf dieser Welt zu sein - er würde Ihnen zu 250% mit Jaaaaa antworten und vermutlich sagen, dass er das beste Leben überhaupt hat. Mir selbst würde etwas sehr Bedeutendes in meinem Leben fehlen. Ich könnte es mir gar nicht ausmalen, wie mein Leben ohne Jonas wäre. Völlig unvorstellbar, da wäre ein großes Loch!

Zur Diagnose gibt es die Visitenkarte der Abtreibungsklinik

ERF: Wird sich der Konflikt zwischen Gruppierungen, die sich bewusst für bzw. gegen behindertes Leben einsetzen, zuspitzen?

Frau Zachmann: Das kann sein. Wobei es schon immer beide Seiten gab. Ich finde diese richterliche Haltung, vorgeburtlich „auszumerzen“, wenn etwas nicht so ist, wie es sein sollte, einfach nicht richtig für uns Menschen. Stellen Sie sich vor, Ihr gesunder Sohn erkrankt plötzlich an Leukämie oder bekommt eine Hirnhautentzündung mit lebenslänglichem Gehirnschaden. Dann gehen Sie auch nicht im Krankenhaus zum Arzt und reklamieren "Ich habe dieses Kind bestellt und gewünscht, aber ich wollte ein gesundes. So möchte ich es nicht. Ich gebe es zurück." Das ist ein sehr plumper Vergleich, ich weiß. Aber der Gedanke "Ich suche mir aus, wie mein Kind zu sein hat und wie es sich entwickeln soll“ – der funktioniert einfach nicht. 

Ich finde es auch furchtbar, dass Frauen in der Schwangerschaft diese schwerwiegende Entscheidung unter so hohem Druck und in Zeitnot treffen müssen. Das ist ein Ausnahmezustand, du hast noch gar keine wirkliche Beziehung zu diesem Kind. Du fühlst nur dieses neue Leben in dir, das bei einem behinderten Kind genauso wie bei einem nichtbehinderten strampelt. Mir hätte es Angst gemacht, hätte ich vor Jonas‘ Geburt gewusst, dass ich ein Kind mit Down-Syndrom bekomme. Ich hätte mir irgendetwas Schreckliches vorgestellt, womit ich nie umgehen kann. Ich hätte mir aber definitiv nie meinen Jonas vorgestellt, nicht die Liebe, die ich zu ihm habe oder dass er sich so toll entwickelt.

Ich bekomme unglaublich viel Leserpost und viele schreiben, dass sie die Diagnose Down-Syndrom bekommen haben und im selben Atemzug ein Kärtchen überreicht von einer Klinik zur Abtreibung. D.h. die ärztliche Beratung geht inzwischen wohl schon zu 80% dahin, dass dieses Leben möglichst im Keim erstickt werden soll. Das macht mich entsetzlich traurig.
 

ERF: Haben Sie eine Idee, wie man das ändern könnte?

Frau Zachmann: Ja, mit der uralten Idee, die schon immer hinter dem Inklusiongedanken steckt: Dass man Menschen mit und ohne Behinderung so normal wie möglich miteinander aufwachsen lässt. Denn was ich kenne, macht mir auch keine Angst. Das wäre letztlich der Schlüssel. Aber umso mehr Kinder „aussortiert“ werden, umso weniger es Behinderung geben wird, umso weniger werden wir damit als etwas Normales aufwachsen. Außerdem, solange wir nicht kapieren, dass wir alle unsere Behinderungen haben - nur manche kann man eben besser kaschieren –, haben wir auch nichts verstanden von Gottes Idee mit dem Reichtum der Vielfältigkeit.
 

ERF: Das würde unsere Gesellschaft insgesamt unbarmherziger machen und wir müssten uns alle dem Diktat der Leistung beugen.

Frau Zachmann: Dem kann ich nur beipflichten. Menschen mit Behinderung können uns in so vieler Hinsicht die Augen öffnen, uns ein Vorbild sein und uns vorleben, was die wirklichen Werte in diesem Leben sind. Sie scheren sich nicht um dieses Leistungsdenken. Da kann ich mir jeden Tag einige Scheiben von meinem Sohn abschneiden. Er hat mir diesbezüglich einiges gegeben und mich so viel Sinnvolles gelehrt. Da bin ich auch reich beschenkt mit ihm!
 

ERF: Vielen Dank für das Gespräch!

 Hanna Willhelm

Hanna Willhelm

  |  Redakteurin

Hanna Willhelm ist Theologin und Redakteurin im Bereich Radio und Online. Sie ist fasziniert von der Tiefe biblischer Texte und ihrer Relevanz für den Alltag. Zusammen mit ihrer Familie lebt die gebürtige Badenerin heute in Wetzlar und hat dabei entdeckt, dass auch Mittelhessen ein schönes Fleckchen Erde ist.

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Kommentare (5)

Erdmute D. /

Da auch ich einen behinderten Sohn habe, ermutigt mich das Zeugnis von den beiden sehr und ich bin von ganzem Herzen Gott sehr dankbar für die beiden und wünsche ihnen weiterhin Mut und Vertrauen auf ihrem Lebensweg.

Harry-Puschel /

Ich finde den Beitrag sehr wichtig.
Menschen mit Behinderungen gehören einfach mit zum Leben.Sie sind eine bereicherung.Sie holen uns runter vom falschen leistungsdenken.Die gesunden Menschen haben mehr

maite /

diese beschreibung allein strahlt schon so viel ermutigung aus. während meines studiums habe ich mein praktisches semester in einem dorf verbracht, wo menschen mit und ohne behinderung zusammen mehr

Chris J /

Ich werde mir das Buch kaufen und wäre auch gern bei einer Lesung dabei. Aber da ich mehr in Spanien lebe, wird das schon schwierig.
Ja, ich bin da mit Frau Zachmann einer Meinung, man sollte Menschen mit und ohne Behinderung so normal wie möglich MITEINANDER aufwachsen lassen...Chris J

Dudda /

Ich finde es gut,das immer mehr Behinderte Menschen Stellung nehmen zu ihren Leben.
In unserer Gesellschaft wird dies nicht akzeptiert, sondern es wird weggeschaut.Die meistenMenschen können nicht mehr

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